Historischer Skisprung-Triumph vor 20 Jahren

Als Sven Hannawald den Mythos der Vierschanzentournee besiegte

Von Martin Armbruster
Tom Bartels ging nicht aus dem Sattel wie 2014, als Mario Götze Deutschland in Rio zum Weltmeister schoss. „Er hat es geschafft, der Mythos der Vierschanzentournee ist besiegt“, sagte der damalige RTL-Kommentator nur – und ließ Sven Hannawald im Auslauf der Paul-Außerleitner-Schanze von Bischofshofen erst einmal „in Ruhe“ explodieren.

Der Skisprung-Urknall

Der rhetorische Reporter-Kniff verfing. Die Bilder, wie Hannawald im Trötenlärm seinen historischen Skisprung-Grand-Slam abfeiert, sind auch heute, 20 Jahre später, unvergessen. Wie die Last von dem 63-Kilo-Leichtgewicht abfällt, wie „Hanni“ die Freude über seinen Coup herausschreit. Wie Co-Trainer Wolfgang Steiert DSV-Sportdirektor Rudi Tusch um den Hals fällt und Bundestrainer Reinhard Heß sein Kapperl zieht. Ein kollektiver Gefühlsausbruch – an der Schanze und bei Millionen vor den Fernsehgeräten.

Im Video blicken Hannawald und Bartels auf den historischen Tag vor 20 Jahren zurück.

Der 6. Januar 2002 war in gewisser Weise ein Skisprung-Urknall. Hannawald gelang, was seit 1953 bei 49 Tourneen noch keiner geschafft hatte: kein Recknagel, kein Wirkola, kein Weißflog, kein Nykänen. Der damals 27-Jährige gewann alle vier Wettkämpfe der legendären deutsch-österreichischen Schanzenserie. Er bezwang den Mythos, wie Bartels im Moment des Big Bang treffend festhielt.

49 Jahre hatte der Grand Slam als Ding der Unmöglichkeit gegolten, als unerreichbarer Skisprung-Olymp. Olaf Björnstad (Norwegen, 1953/54), Helmut Recknagel (DDR, 58/59), Max Bolkart (BRD, 59/60), Toralf Engan (Norwegen, 62/63), Björn Wirkola (Norwegen, 68/69), Yukio Kasaya (Japan, 71/72), Kazuyoshi Funaki (Japan, 97/98). Sie alle hatten die ersten drei Springen gewonnen. Sie alle (bis auf Kasaya, der zur Vorbereitung auf Olympia in Sapporo vom japanischen Verband abgezogen wurde) scheiterten beim Finale in Bischofshofen am ganz großen Ding.

"Hanni" sollte das Ding endlich klarmachen

Sven Hannawald sprang sich im Winter 2001/02 in einen Rausch. Nach den Heimsiegen in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen gingen die Träumereien los – wenngleich mit Vorsicht. Denn die Auftaktspringen hatte auch Martin Schmitt 1998 gewonnen, nur, um am Bergisel in Innsbruck abzustürzen. Hannawald aber legte auf dem verflixten Teufelsbakken nochmal zu. Mit Schanzenrekord sprang er die Konkurrenz in Grund und Boden. In dieser Form schien der historische Viererpack nur noch Formsache.

Und doch: Wie schwer das Unterfangen war, hatte sich erst im Jahr 4 v. H. (vor Hannawald) gezeigt: Auch der Japaner Funaki dominierte 1997/98 die ersten drei Wettkämpfe. In Bischofshofen hielt der ästhetische Floh aus Fernost dem Druck nicht mehr Stand, wurde sang- und klanglos Achter (Hannawald gewann vor Hans-Jörg „Jackson“ Jäkle).

Diesen Druck spürte Anfang 2002 nun Hannawald. Und wie. Ganz Deutschland befand sich im Skisprung-Taumel, die Quoten bei RTL gingen durch die Decke. Hardcore-Fans wie Muttis – sie alle erwarteten von „Hanni“ das, was doch eigentlich unmöglich war. „Ich mach’ mein Zeug“, trug der schmächtige Mann aus Hinterzarten in den TV-Interviews wie ein Mantra vor sich her. Ein simpler, sympathischer Satz, um der (medialen) Erwartungshaltung zu entfliehen.

Neujahrsspringen in Garmisch-Partenkirchen: Sven Hannawald stand im Garmisch bei den Fans absolut im Mittelpunkt.//
Sven Hannawald entfachte im Winter 2001/02 in Deutschland eine regelrechte Skisprung-Hysterie
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Showdown in Bischofshofen

Hannawald wollte locker wirken. Der Druck aber, der vor dem Tournee-Finale auf ihm lastete, war unmenschlich. Er sollte diese verflixten Vier jetzt endlich klarmachen! Versagen verboten! Um Körner zu sparen, ließ der DSV-Adler regelmäßig die Qualifikation aus, musste im Wettkampf dafür im K.o.-Duell stets gegen die Stärksten ran.

Wie Hannawald angesichts dieser Gemengelage auf der Paul-Außerleitner-Schanze „performte“ – einzigartig. Gewiss: Die Anlage mit ihrem langen Schanzentisch lag dem geborenen Flieger, erst drei Jahre zuvor hatte er bei einem legendären WM-Teamspringen mit 137 Metern einen Rekord in den Salzburger Schnee geknallt (und mit Dieter Thoma, Martin Schmitt und Christof Duffner Gold geholt). Doch als wäre der Druck auf Hannawalds schmalen Schultern nicht schon groß genug gewesen, hauten der Slowene Robert Kranjec und der Finne Matti Hautamäki im ersten Durchgang mit 134,5 respektive 134 Metern plötzlich mächtig welche raus.

Um kurz vor 4 war die 4 durch

ARCHIV - 05.01.2002, Österreich, Bischofshofen: Der deutsche Skispringer Sven Hannawald (Hinterzarten) fliegt am 05.01.2002 im österreichischen Bischofshofen vor der Kulisse des Tennegebirges (hinten) im Training von der Paul-Außerleitner-Schanze, wo am 06.01.2002 der vierte und letzte Wettbewerb der 50. Vierschanzen-Tournee stattfand.  Hannawald hat die Vierschanzentournee gewonnen und damit Sport-Geschichte geschrieben. (zu dpa "Ex-Springer Hannawald: Wird langsam Zeit für deutschen Tournee-Sieger") Foto: epa\apa Barbara Gindl/epa apa/dpa +++ dpa-Bildfunk +++
Auch in Bischofshofen flog Hannawald allen davon
lrei cul, dpa, epaapa Barbara Gindl

Und Hannawald? Blieb cool, traf die Kante, flog, flog, flog und landete fast schon im Flachen – 139 Meter! Weil er in diesem Weitenbereich nur eine Haferl-Landung setzen konnte und Punkte einbüßte, blieb es allerdings spannend. Hautamäki wollte den Party-Crasher spielen und den Tournee-Mythos intakt halten, legte im Final-Durchgang mit 131,5 Metern erneut einen Bombensatz vor. Als letzter Springer rutschte Hannawald auf den Balken. Um „15:56 Uhr und 26 Sekunden“, wie Tom Bartels der gebannten Nation verbal protokollierte, checkte er noch einmal seine Bindung. Dann fuhr er los.

Um „15:56:55“ (Bartels) war es vollbracht. Hannawald hatte ein achtes Mal geliefert, unbeirrt sein Zeug gemacht. 131,5 Meter samt Telemark. Die Sache war durch.

"Ich habe für den Jugendtraum des kleinen Sven alles gegeben, über viele Jahre, teilweise Jahrzehnte. Das hat am Ende gekostet“, blickte Hannawald, der später einen Burnout erlitt, anlässlich seines 20-jährigen Grand-Slam-Jubiläums in einem Interview zurück. „Aber mir ist wichtiger, dass ich den Traum erfüllen konnte und zwar, die Tournee zu gewinnen.“

Sven Hannawald hat die Vierschanzentournee heute vor 20 Jahren nicht einfach nur gewonnen. Er hat sie entmythologisiert – und seit ein paar Jahren mit Kamil Stoch (Polen) und Ryoyu Kobayashi (Japan) sogar Gesellschaft im Club der Grand-Slam-Sieger.