Bisher war der Kita-Besuch gratisKita-Gebühren in Schleswig-Holstein: Eltern von Kindern mit Behinderung werden zur Kasse gebeten

Anfang Dezember 2020 flatterte die Hiobsbotschaft ins Haus von Familie Wellmann und vieler anderer betroffener Familien in Schleswig-Holstein. Ein Informationsschreiben des Sozialministeriums teilte Malte (35) und Mandy Wellmann (34) mit, dass sie ab dem 01. Januar 2021 Kita-Gebühren für ihre epilepsiekranke Tochter zahlen müssen: Satte 170 Euro pro Monat. Datiert war das Anschreiben des Landkreises auf den 24. April 2020. Wie kam es zu der Verzögerung? Und weshalb müssen Eltern in Schleswig-Holstein blechen – andernorts aber nicht? RTL hat Familie Wellmann mit Mats (9) und Mette (5) besucht. Wie sie die Situation erleben und die Mehrkosten stemmen – im Video.

2.000 Euro im Jahr reißen Loch in die Familienkasse

Dieser Brief ist im April datiert , erreicht hat er betroffene Eltern jedoch erst rund acht Monate später - kurz vor der Fälligkeit der neuen Kita-Gebühren für Kinder mit Behinderung.
Dieser Brief ist im April datiert, erreicht hat er betroffene Eltern jedoch erst rund acht Monate später - kurz vor der Fälligkeit der neuen Kita-Gebühren für Kinder mit Behinderung.
RTL, RTL, RTL

Rund 2.000 Familien mit behinderten Kindern waren in Schleswig-Holstein bisher von den Kitagebühren befreit, doch seit Januar diesen Jahres ist das anders. Ein Schreiben, datiert auf den 24. April 2020, erreichte betroffene Eltern erst Anfang Dezember 2020 und informierte darüber, dass sie bald zahlen müssen. Eine Folge der schleswig-holsteinischen Kita-Reform: „Das Gesetz zur Stärkung der Qualität in der Kindertagesbetreuung und zur finanziellen Entlastung von Familien und Kommunen“ ist seit dem 01. Januar 2021 in Kraft. Von „finanzieller Entlastung“ kann im Falle der Wellmanns aus Handewitt bei Flensburg jedoch keine Rede sein. „Für uns ist das an Zynismus nicht zu überbieten“, sagt Malte Wellmann.

Seine Familie muss durch die Reform monatlich rund 169,80 Euro Kita-Gebühren berappen. Über 2.000 Euro im Jahr, die plötzlich fehlen. Die Wellmanns wurden von den Mehrkosten kalt erwischt. "Für eine Familie mit einem behinderten Kind ist das ein dickes Ding", so der 35-Jährige, dessen Tochter Mette entwicklungsverzögert ist und an teils lebensbedrohlichen Krampfanfällen leidet, jeden Tag einen Medikamenten-Cocktail nehmen muss. "Das tut schon ganz schön weh im Portemonnaie."

Wütend mache ihn vor allem die kurze Frist. "Wenn man dann die Schreiben durchgeht und sieht, wie viele Monate das vorher scheinbar im Ministerium auf Landesebene bekannt war und wir Eltern letztendlich vier Wochen vorher die Info bekommen – das funktioniert so einfach nicht." Hätte er vorher von der Mehrbelastung gewusst, die Familie hätte anders kalkuliert. Ein erst kürzlich für Mette angeschaffter Therapiehund tut dem Kind gut, kostet jedoch auch um die hundert Euro monatlich. Auch den Urlaub im Sommer diesen Jahres - 800 Euro für eine Woche im Ferienhaus - hätte man mit dem Wissen von heute nicht gebucht, so Malte Wellmann.

Mettes Kinderkrankenschwester wird weiter bezahlt - ihr Kita-Platz nicht

In Schleswig-Holstein müssen Eltern von Kindern mit Behinderung seit dem 01. Januar 2021 Kita-Gebühren bezahlen.
Malte und Mandy Wellmann vor der Kita ihrer Tochter: Hier fühlen sie sich willkommen und wissen die kleine Mette (5) sicher betreut.
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Aber weshalb die Gebühren? Und wie kam es zu der Informationspanne? Das Ministerium teilte auf RTL-Anfrage mit, man habe „alle erforderlichen Informationen über die Änderungen der heilpädagogischen Leistungen der Eingliederungshilfe im Februar 2020 schriftlich bereit gestellt“. Verantwortlich für die Info über konkrete Leistungen seien im Einzelfall die Kreise und Träger – die „vor Ort vorgesehenen Verfahren sind dem Ministerium nicht bekannt“.

RTL horchte beim Landkreis nach. Dieser bestreitet, die Familien nicht rechtzeitig in Kenntnis gesetzt zu haben. In einer schriftlichen Stellungnahme heißt es, man habe „sowohl die Eltern von Kindern mit einer Behinderung als auch die Kita-Träger im Vorfeld, also vor dem 1. August 2020 und nochmals vor dem 1. Januar 2021, über diese Änderung informiert“. Ein reines Informationsschreiben, das der Kreis als „Service-Leistung“ versandt habe.

Auf den Fall der Wellmanns bezogen teilte man mit: „Vermutlich besucht das Kind der nachfragenden Familie eine integrative Gruppe in einem Regelkindergarten, so dass der Elternbeitrag ab Januar 2021 erhoben wird.“ Denn nur Eltern, deren Kinder „einen Regelkindergarten besuchen, müssen die in § 31 des KiTa-Reformgesetzes festgesetzten Elternbeitrag in Höhe von 5,66 € je wöchentlicher Stunde leisten“.

Der Kreis betont, dass Eltern, die für ihre Kinder in einem Regelkindergarten „zusätzliche Leistungen der Frühförderung im Rahmen der Eingliederungshilfe“ erhalten, diese auch weiterhin kostenlos auf Grundlage des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) bekommen. Dazu zählt im Fall von Mette eine Kinderkrankenschwester, die das kleine Mädchen den ganzen Tag begleitet. Auch auf seiner 30-minütigen Busfahrt in die Kita, um bei einem potentiell tödlichen Krampfanfall eingreifen zu können. Diese wird auch weiterhin von der Krankenkasse und der Eingleiderungshilfe finanziert – der Kita-Platz nicht.

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"Gleiche Pflichten und gleiche Regeln für alle"

Der Kreis verwies zudem darauf, dass Eltern mit geringem Einkommen Anspruch auf Reduktion oder Erlass der Elternbeiträge hätten, dies regele allerdings die jeweilige Gemeinde. Gemeinden und Träger seien jedoch nicht Urheber der Gebührenerhebung, da müsse man sich an die Jamaika-Koalition in Schleswig-Holstein wenden, die die Kita-Reform erlassen hatte. Die Landesregierung wiederum argumentierte, dass der Bund in der Neufassung des Bundesteilhabegesetzes die Frage nach den Kita-Gebühren nicht geregelt habe. Die Verantwortung sei also in Berlin zu suchen.

Ursula Hegger, zuständig für Frühförderung und Kitas beim Landesbeauftragten für Menschen mit Behinderung, bezeichnete den Vorgang als „Verkettung unglücklicher Umstände“. Zu verhindern seien Gebühren in Schleswig-Holstein auf lange Sicht aber nicht gewesen. „Wenn man Inklusion wirklich zu Ende denkt, heißt es ja, gleiche Rechte, natürlich eine Gleichstellung, aber natürlich irgendwo auch gleiche Pflichten und gleiche Regeln für alle.“

Theoretisch richtig, aber gleichgestellt sind die Kinder mit Behinderung und deren Eltern im realen Leben nicht. Ebenjene Familien sind im Alltag stark belastet – psychisch und auch finanziell. Sie haben höhere Ausgaben, können mitunter aber weniger arbeiten und verdienen. Trotzdem sollen sie nun genauso viel zahlen wie alle anderen. Gerechtigkeit und Gleichstellung sehen anders aus.

Es dürfe nicht sein, dass Eltern ihre beeinträchtigten Kinder am Ende aus finanziellen Gründen aus der Betreuung nehmen und zu Hause betreuen müssen, sagt Astrid Henke, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Schleswig-Holstein. „Gerade Kinder mit Behinderung brauchen das Lernen mit anderen Kindern“, sagt Henke. „Das Land muss da nachbessern.“

RTL-Reporter: "Habe so etwas noch nicht erlebt"

In Schleswig-Holstein müssen Eltern von Kindern mit Behinderung seit dem 01. Januar 2021 Kita-Gebühren bezahlen.
RTL-Reporter Martin Drohsel vor dem Gebäude des Sozialministeriums von Schleswig-Holstein.
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Bund? Länder? Kommunen? Wer trägt die Schuld? Es scheint, als wolle niemand so recht die Verantwortung übernehmen. RTL-Reporter Martin Drohsel hat jahrelang Politik-Berichterstattung aus Schleswig-Holstein gemacht. Er sagt: „Ich habe so etwas noch nicht erlebt. Mein persönlicher Tiefpunkt während meiner vielen vergeblichen Versuche, ein Interview mit dem Sozialministerium zu bekommen, war, als mich ein Sprecher des Sozialministeriums an die drei Landtagsfraktionen der Koalition verwiesen hat. Dabei ist natürlich die Landesregierung für die Umsetzung der Gesetze verantwortlich.“

Ein Beispiel, das noch einmal deutlich illustriert, wie der Schwarze Peter zwischen den Verantwortlichen hin und hergeschoben wird – und das auf dem Rücken betroffener Familien, die eigentlich durch die Neuauflage des BTHG, die zeitgleich zu Schleswig-Holsteins Kita-Reform in Kraft getreten war, besser- oder gleichgestellt werden sollten.

Schwarzer-Peter-Spiel auf Rücken betroffener Familien

In Schleswig-Holstein müssen Eltern von Kindern mit Behinderung seit dem 01. Januar 2021 Kita-Gebühren bezahlen.
Die SPD-Politikerin ist mit der Kita-Reform der Landesregierung Schleswig-Holstein nicht zufrieden und kann den Unmut der Eltern verstehen.
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Die stellvertretende SPD-Bundesvorsitzende und Landesvorsitzende in Schleswig-Holstein findet klare Worte bezüglich der Schuldzuweisungen und verortet die Verantwortung ganz klar bei der Landesregierung. „Sie haben es verbockt, sie haben es im Gesetz so geregelt, alle anderen Bundesländer regeln das anders“, sagt Serpil Midyatli im RTL-Interview. „Das heißt also, die Schuld Richtung Bund zu schieben, ist nicht fair. Diesen Schuh müssen sie sich selbst anziehen.“ Ebenso ungerecht finde sie es, eine solche Reform zu verabschieden und anschließend den Landkreisen und Trägern „vor die Füße zu kippen“ und mit den Problemen alleine zu lassen.

Sie und ihre Partei hätten „schon sehr früh kritisiert, dass es zu einer Ungerechtigkeit kommen wird“, so Midyatli im RTL-Interview. Aus ihrer Sicht sei die Reform der Landesregierung aus CDU, FDP und Grünen verfehlt. Kita-Gebühren gehören nach ihrem Dafürhalten per se abgeschafft – besonders aber für Eltern von Kindern mit Behinderung. Sie kritisiert die Kita-Reform auch, weil das Themenkomplex Inklusion vollständig ausgeklammert worden sei. Sie könne den Unmut der Eltern sehr gut nachempfinden – zumal in Coronazeiten ohnehin viele Menschen in Kurzarbeit seien und um ihre Jobs bangen. So auch Mandy Wellmann, die ihren Beruf als Restaurantfachkraft derzeit wegen des Corona-Lockdowns nicht ausüben kann und in Kurzarbeit ist.

In HH zahlen Eltern maximal elf Euro im Monat

Immerhin hätte die Landesregierung die Möglichkeit gehabt, einen „Bestandsschutz“ für die 2.000 Familien auszuweisen, die bisher nicht zahlen mussten. Dies hätte sich auch Ursula Hegger gewünscht, sodass diejenigen Eltern, „die bisher befreit waren, auch weiterhin befreit bleiben, bis das Kind die Kita verlässt, sodass man jetzt nicht diese Härte für betroffene Eltern von Null auf Hundert hat“. Doch die Landesregierung verzichtete auf einen solchen „weichen Übergang“.

Wie unterschiedlich die einzelnen Bundesländer das neu aufgelegte Bundesteilhabegesetz umsetzen, zeigt sich auch am Beispiel Hamburg. Dort ist der Besuch einer Kita gemäß §26 Hamburger Kinderbetreuungsgesetz für Kinder mit besonderen Bedürfnissen und Einschränkungen ab drei Jahren bis zur Einschulung bis zu sechs Stunden täglich auch weiterhin beitragsfrei. Ab acht Stunden täglich zahlen Eltern maximal elf Euro pro Monat. In anderen Bundesländern – etwa Niedersachsen – sind Kita-Plätze für alle Kinder ab drei Jahren beitragsfrei.

Mette darf nun in jede Kita gehen, doch die Eltern müssen zahlen

Dieser Brief ist im April datiert , erreicht hat er betroffene Eltern jedoch erst rund acht Monate später - kurz vor der Fälligkeit der neuen Kita-Gebühren für Kinder mit Behinderung.
Die kleine Mette fährt täglich 30 Minuten mit dem Bus zum Kindergarten. Laut BTHG könnte sie nun auch in eine nähergelegene Kita gehen, doch die kostet.
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Wie sehr die schleswig-holsteinische Kita-Reform die Inklusionsbestrebungen des BTHG ad absurdum führt, illustriert auch Mette Wellmanns Geschichte. Das Mädchen ist fünf Jahre alt, geistig aber auf dem Stand einer Zwei- bis Dreijährigen. Seit ihrer Geburt leidet sie an teils lebensbedrohlichen Epilepsieanfällen, die auf keine Therapie ansprechen. Bisher besuchte sie gratis eine inklusive Gruppe in einer Kindertagesstätte, die rund 13 Kilometer und 30 Busminuten entfernt ist. Die anderen sieben Kitas in der Umgebung kamen nicht infrage, weil es bislang die Wahlfreiheit nicht gab.

Diese wurde 2021 im neu aufgelegten BTHG eingeführt - doch die Kita-Reform hat die Wahlfreiheit durch die Gebührenregelung de facto wieder ausgehebelt. Zwar kann Mette nun in jeden Kindergarten gehen und sich den potentiell gefährlichen Busweg ersparen, doch ein Platz im Regelkindergarten kostet nun genauso viel, wie für alle anderen Kinder auch. Und ob die umliegenden Kitas pflegerisch überhaupt auf die Betreuung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen vorbereitet sind, steht noch einmal auf einem ganz anderen Blatt.