Hebamme über Wunsch und Wirklichkeit

„Wir wollen einen guten Start ins Leben gewährleisten - dafür sind wir Hebammen geworden“

Schlechte Bezahlung und Überforderung im Job führen dazu, dass viele Hebammen ihren Job nach kurzer Zeit an den Nagel hängen.
Der Beruf der Hebamme ist vielseitig, aber auch anstrengend.
Branislav Novak, (C) Branislav Novak ((C) Branislav Novak (Photographer) - [None], istockphoto

Rund 770.000 Kinder wurden im Jahr 2020 geboren. Gesetzlich ist geregelt, dass bei jeder Geburt eine Hebamme dabei ist. Damit leisten Hebammen einen unverzichtbaren Job, bei dem sie zudem eine hohe Verantwortung tragen. Dennoch ergreifen scheinbar immer weniger Frauen diesen Beruf oder hängen ihn bereits nach kurzer Zeit an den Nagel. Woran liegt das? Mit welchen Problemen Hebammen in ihrem Alltag zu kämpfen haben und warum viele Hebammen ihren Beruf trotzdem als den schönsten auf der Welt ansehen, erzählen Ann-Jule Wowretzko, Hebamme und Landesvorsitzende des Berliner Hebammenverbandes, und Nora Imlau, Fachjournalistin für Familienthemen und vierfache Mutter.

Starten Sie die Suche nach einer Hebamme so früh wie möglich!

Viele Frauen wünschen sich schon in der Schwangerschaft eine Betreuung durch eine Hebamme. Fakt ist jedoch, dass immer mehr Schwangeren in Deutschland immer weniger Hebammen gegenüberstehen. So arbeiteten laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2016 nur noch 1.776 Beleghebammen, die Frauen von der Schwangerschaft bis zur Geburt persönlich begleiten, in Deutschland. Im Jahr 2012 waren es noch 1.996 Beleghebammen.

Die Gründe dafür sind vielfältig: Neben der teuren Haftpflichtversicherung und geschlossenen Geburtsstationen in Krankenhäusern ist es vor allem die Überforderung im Alltag. „Das Problem sind schlechte Arbeitsbedingungen. In Kliniken müssen Hebammen auch unter der Geburt mehrere Frauen betreuen“, erklärt Hebamme Ann-Jule Wowretzko. Der Stress für die Hebammen sei groß, weil sie allen eine gute Betreuung geben müssten und auch wollten. Das sei sehr anstrengend – und schlage sich auch in der rückläufigen Zahl der Hebammen wieder. „Wir verlieren viele Kolleginnen sehr schnell wieder.“

Schuld daran sei auch die verhältnismäßig schlechte Bezahlung bei hoher Arbeitsbelastung. „Das Problem ist, dass Hebammen in unserem Gesundheitssystem nicht die Wertschätzung erfahren, die sie verdient haben“, bringt es Vierfach-Mama Nora Imlau auf den Punkt. „Für Wochenbettbesuche gibt es zum Beispiel Standardtarife, die sehr niedrig sind. Diese werden der Zeit, die Hebammen tatsächlich bei der Frau und der Familie verbringen, nicht gerecht“, erzählt die Journalistin.

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Viele Hebammen sind über Monate ausgelastet

Bei festangestellten Hebammen sieht es nicht besser aus: „Viele Hebammen müssen im Krankenhaus viele Nebentätigkeiten ausführen: Dazu zählen Kreissaal putzen, Frauen von der Station holen oder dorthin bringen, Akten anlegen und so weiter“, erzählt Wowretzko aus ihrem Berufsalltag. Das gehe alles von der Betreuungszeit der Frauen ab – und trage dazu bei, dass viele Hebammen den Beruf schnell wieder verlassen. „Hebamme ist kein Beruf, den Frauen ergreifen, um viel Geld zu verdienen. Meist ergreifen sie ihn aus Enthusiasmus und kehren ihm dann nach kurzer Zeit ernüchtert den Rücken“, fasst Wowretzko zusammen.

Das verstärkt das Problem jedoch nur noch weiter. „Allein in Berlin sind 30 Vollzeitstellen unbesetzt“, weiß Wowretzko, die auch Landesvorsitzende des Berliner Hebammenverbandes ist. Viele Hebammen sind oft über Monate oder das gesamte restliche Jahr ausgelastet, und die Arbeitsbelastung steigt weiter. Daher sollten Schwangere am besten direkt nach dem positiven Schwangerschaftstest mit der Suche nach einer Hebamme starten.

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"Hebammen sehen Schwangerschaft als natürlichen, gesunden Prozess"

Wie wichtig der Job der Hebamme nicht nur während und bei der Geburt, sondern auch und gerade in Schwangerschaft und Wochenbett ist, weiß Vierfach-Mama Nora Imlau: „Die Schwangerschaft ist eine Zeit, in der körperlich, wie seelisch, viel passiert. Während Frauenärzte den Fokus auf die körperlichen Veränderungen legen und in erster Linie danach schauen, ob etwas nicht in Ordnung ist, sehen Hebammen die Schwangerschaft als natürlichen, gesunden Prozess, den sie begleiten.“

„Es wird nicht nur geschaut, ob es Mutter und Baby gut geht, sondern die Hebamme versucht auch, der werdenden Mutter und deren Partner das Fortschreiten der Schwangerschaft begreifbar und fühlbar zu machen“, erzählt Imlau aus eigener Erfahrung.

Hier stünden Fragen nach dem Wohlergehen der Schwangeren, die genaue Lage des Babys und etwaige seelische Belastungen der werdenden Mutter durch die Schwangerschaft im Vordergrund. Und das wirke sich auch auf die werdenden Eltern aus: „Mein Eindruck ist, dass Paare und Schwangere, die sich von einer Hebamme begleiten lassen, entspannter und zuversichtlicher durch die Schwangerschaft gehen“, schildert die vierfache Mutter ihre Erfahrung.

Hebammen leisten weit mehr als "nur" Geburtshilfe

„Eine Geburt ist immer eine einschneidende Erfahrung – körperlich wie emotional. Und die will erst einmal verarbeitet werden“, betont Imlau. Dabei leiste eine Hebamme einen großen Beitrag. „Eine Hebamme guckt bei dem Wochenbettbesuch natürlich nach dem Gesundheitszustand des Neugeborenen und der Entbundenen – gleichzeitig ist es immer auch ein Besuch, der Raum gibt für Fragen und die Verarbeitung der Geburt“, so Imlau.

Im besten Fall sei die Hebamme eine kontinuierliche Ansprechpartnerin von Beginn der Schwangerschaft bis zum Ende des ersten Lebensjahres des Babys hinaus. „Sie steht der Mutter in der Regel auch noch bei Fragen zum Abstillen oder zur Einführung der Beikost zur Seite. Oft herrscht eine große Vertrautheit“, weiß Imlau aus eigener Erfahrung. Sie hat ihre vier Kinder alle gemeinsam mit einer Hebamme bei sich zuhause zur Welt gebracht.

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„Wünschenswert wäre ein fester Personalschlüssel"

Das Miterleben der Geburt macht den Beruf der Hebamme auch für Wowretzko zu einem der schönsten der Welt: „Ich finde, es ist ein wahnsinniges Privileg, dabei sein zu dürfen, wenn ein neues Leben geboren wird.“ Eine Kollegin habe ihr einmal gesagt „Hebamme ist kein Beruf, sondern das wird man fürs Leben“ – das könne sie genauso unterschreiben.

Allerdings würde sie sich wünschen, „dass es wieder so wird und dass die Arbeitsbedingungen so sind, dass wir es tatsächlich ein Leben lang bleiben.“ Wünschenswert wäre ein fester Personalschlüssel, sodass tatsächlich eine Hebamme eine Geburt betreuen kann. „Das würde eine gute Qualität gewährleisten“, ist sich die Hebamme sicher.

Die Realität in vielen Kliniken sehe jedoch anders aus. So sei es häufig Standard, dass Frauen in der Eröffnungsphase oft allein gelassen werden, weiß auch Imlau. „Dabei ist es erwiesen, dass eine Hebamme an der Seite den Einsatz von Schmerzmitteln senkt und den Geburtsverlauf positiv beeinflusst.“

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„Wir wollen einen guten Start ins Leben gewährleisten, dafür sind wir Hebammen geworden“

Auch die Leitlinie 'Vaginale Geburt am Termin', empfiehlt eine Eins-zu-Eins-Geburtsbegleitung. Diese wirke sich nicht nur auf das Wohlbefinden von Frauen aus, sondern sei auch medizinisch notwendig für die sichere Betreuung einer risikoarmen Geburt. Die Leitlinie wurde vom Verein Mother Hood e.V. mitentwickelt, deren Botschafterin Nora Imlau ist.

Bislang sie die gewünschte und in der Leitlinie geforderte 1:1-Betreuung laut Imlau meist nur in Geburtshäusern möglich. Bleibt zu hoffen, dass sich zukünftig auch mehr und mehr Kliniken an den Empfehlungen des Leitfadens orientieren. Denn dadurch ließe sich auch Wowretzkos Wunsch, den sie stellvertretend für ihre Kolleginnen formuliert, leichter erfüllen: „Wir wollen einen guten Start ins Leben gewährleisten, dafür sind wir Hebammen geworden“.