Ist sie doch keine Mörderin?

Einen Tag vor geplanter Exekution: Gericht stoppt Hinrichtung von 14-facher Mutter Melissa Lucio

"Oh, Gott sei Dank", schluchzt Melissa Lucio auf. Sie ist kaum in der Lage zu sprechen, nachdem sie die Nachricht erhalten hat: Die 53-Jährige wird nicht sterben. Die für Mittwoch geplante Hinrichtung der verurteilten Mörderin wurde verschoben – denn es gibt massive Zweifel an ihrer Schuld. Den Moment als Familie Lucio von der Hinrichtungsaufschiebung erfährt, sehen Sie im Video.

Wird der Fall von Melissa Lucio neu aufgerollt?

In this April 6, 2022 photo provided by Texas state Rep. Jeff Leach, Rep. Leach stands next to death row inmate Melissa Lucio during a visit by a group of seven lawmakers to the Mountain View Unit in Gatesville, Texas. The lawmakers visited Lucio to update her about their efforts to stop her April 27 execution. The lawmakers say they are troubled by Lucio’s case and believe her execution should be stopped as there are legitimate questions about whether she is guilty. (Texas state Rep. Jeff Leach via AP)
Jeff Leach, Abgeordneter des Bundesstaates Texas, und Todeskandidatin Melissa Lucio bei einem Besuch im Mountain View Unit in Gatesville, Texas.
AP

Seit 2007 sitzt Melissa Lucio im Todestrakt von Mountain View Unit in Gatesville, nun hatte ihr Gnadengesuch Erfolg: Das texanische Berufungsgericht hat einen Aufschub ihrer Hinrichtung gewährt. Die für Mittwoch geplante Exekution wurde gestoppt und der Fall zur Prüfung neuer Beweise an das Gericht zurückverwiesen. Jeff Leach, ein Abgeordneter des US-Bundesstaates Texas, rief Lucio an, um ihr die Nachricht zu überbringen. Dem Nachrichtensender CNN liegt die Aufzeichnung des Telefonats vor. Trotz des Aufschubs wird sie in der Todeszelle bleiben, so ihr Anwaltsteam.

Das Gericht in Brownsville muss nun die Beweise für Lucios Unschuld prüfen und eine Empfehlung an das texanische Berufungsgericht für Strafsachen geben. Dann entscheidet sich, ob der Fall erneut vor Gericht kommt – oder ob das Urteil vollstreckt und Melissa hingerichtet wird.

Fünf Ex-Geschworene fordern Stopp von Lucios Exekution

Die Staatsanwaltschaft hatte im Prozess argumentiert, Melissa Lucio habe ihre Tochter misshandelt, ihr Verletzungen beigebracht, die letztlich zum Tod des Kindes führten. Aus den Gerichtsunterlagen geht hervor, dass der Körper der kleinen Mariahs zum Zeitpunkt ihres Todes mit blauen Flecken in verschiedenen Stadien der Heilung überseht war, der Arm einige Wochen zuvor gebrochen worden war. Zudem hatte die Zweijährige eine Bisswunde am Rücken.

Verletzungen, die nach Überzeugung der Ankläger auf Misshandlungen durch die Angeklagte zurückzuführen seien. Bei der Verhandlung sagte der Gerichtsmediziner aus, dass Mariah durch stumpfe Gewalteinwirkung auf den Kopf gestorben sei, und nannte sie ein "misshandeltes Kind". Ein Arzt der Notaufnahme, der noch versucht hatte, Mariah wiederzubeleben, nannte es den "absolut schlimmsten" Fall von Kindesmisshandlung, den er je gesehen habe.

Lucio selbst, ihre Familie, Befürworter und Anwälte halten dagegen. Melissa sei zu Unrecht wegen Mordes verurteilt worden. Auch fünf damalige Geschworene hatten sich gemeldet und bestanden darauf, die Hinrichtung zu stoppen, damit die Todeskandidatin einen neuen Prozess bekommt, der auf Beweisen basiert, die sie 2007 nicht gehört hätten. Durch den Dokumentarfilm "The State of Texas vs. Melissa" aus dem Jahr 2020 war der Fall erneut in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Auch Prominente wie Kim Kardashian fordern die Begnadigung der Frau.

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Behörden soll Beweise unterdrückt und Geständnis erzwungen haben

Die Verletzungen hätten nicht von Missbrauch, sondern von einem Sturz hergerührt, argumentieren die Verteidiger. Das Kind sei zwei Tage vor seinem Tod außerhalb der Wohnung im zweiten Stock von einer steilen Treppe gefallen. Die Behörden hätten diesbezüglich Beweise ignoriert. Lucios Anwälte verweisen auf mehr als tausend Seiten Unterlagen des Kinderschutzdienstes aus dieser Zeit. Diese Aufzeichnungen, so ihr Gnadengesuch, "erzählen eine Geschichte von Melissas Liebe zu den Kindern“. Aber auch von ihrer Unfähigkeit, sich richtig um sie zu kümmern, was unter anderem auf Armut und Lucios Drogenabhängigkeit zurückzuführen sei. Berichte des Jugendamtes („Child Protective Service“) würden beweisen, dass keines der Kinder jemals von Lucio misshandelt worden sei, so das Anwaltsteam.

Sie sei zudem vor allem auf Grundlage eines eines erzwungenen „Geständnisses“ verurteilt worden. Dieses habe sie noch in derselben Nacht gemacht, in der ihre Tochter starb. Und zwar nachdem die Behörden sie einem „aggressiven“ Verhör ausgesetzt hätten. Lucios Anwälten zufolge habe sie nur „vage“ angegeben, für die Verletzungen ihrer Tochter verantwortlich zu sein, diese aber nie gestanden. Die 14-fache Mutter sei zu der Aussage genötigt worden, und habe dem Druck aufgrund ihrer eigenen Vorgeschichte von sexuellem Missbrauch und Gewalt nicht standgehalten.

Melissa Lucio darf Muttertag doch noch erleben

In this undated photograph, Texas death row inmate Melissa Lucio is holding one of her sons, John. Lucio is set to be executed on April 27 for the 2007 death of her 2-year-old daughter Mariah. Prosecutors say Lucio fatally beat Mariah but Lucio has long denied that, saying her daughter died from injuries sustained during a fall down a flight of stairs. Her lawyers say Lucio's history of sexual and physical abuse led to her giving an unreliable confession. They hope to persuade the state's Board of Pardons and Paroles and Gov. Greg Abbott to either grant an execution reprieve or commute her sentence. (Photo courtesy of the family of Melissa Lucio via AP)
Melissa Lucio mit ihrem Sohn John Lucio.
JL MG, AP

"Ich danke Gott für mein Leben. Ich habe immer auf ihn vertraut", sagte Melissa Lucio in einer Erklärung, die von ihrem Anwaltsteam verbreitet wurde. "Ich bin dankbar, dass das Gericht mir die Chance gegeben hat, zu leben und meine Unschuld zu beweisen. Mariah ist heute und immer in meinem Herzen.“

Bei einer Pressekonferenz, an der auch Lucios Familie teilnahm, sagte Vanessa Potkin, Direktorin für spezielle Rechtsstreitigkeiten beim „Innocence Project“: "Es ist noch ein langer Weg in Melissas Fall, und es gibt noch viel mehr, was einer Entlastung im Wege steht. Aber der heutige Aufschub und die Zurückverweisung, um Anhörungen zu neuen Beweisen für ihre Unschuld durchzuführen, öffnet die Tür zu einem neuen Prozess in ihrem Fall. Und letztendlich zu einer vollständigen Rehabilitierung".

Melissas Lucios Sohn, Bobby Alvarez, sagte Reportern, die Familie freue sich jetzt auf den Muttertag am 08. Mai. "Wir haben heute schon darüber gesprochen, was wir zum Muttertag machen werden", sagte er laut „CNN“. "Ich weiß, dass sie viele Karten haben möchte." Ihr Sohn John Lucio sagte, sie würden „diesen Kampf weiterführen, um sie nach Hause zu bringen. Sie wird nicht mehr hingerichtet werden. Meine Mutter wird bald frei sein. Ich möchte einfach nur danke sagen". (cwa)