Polit-Kolumne von Franca LehfeldtAch guck, die Grünen sind auch nur Menschen! Sie sollten ihren Zeigefinger senken

viele wollten es nicht glauben, auch nicht in den Medien. Aber es ist wahr: Die Grünen sind auch nur Menschen!
Zum Markenkern dieser Partei gehört der Appell an die Moral. Transparenz wird gefordert. Materielle und wirtschaftliche Vorteile werden kritisch bewertet. Wer aber hohe Maßstäbe an andere anlegt, muss ihnen selbst auch gerecht werden.
Die hypermoralisch auftretenden Grünen werden nun 128 Tage vor der Wahl von der Realität eingeholt. Das ist kein Grund für Häme oder Schadenfreude – aber höchste Zeit für die Grünen, den erhobenen Zeigefinger gegenüber der Allgemeinheit vorsichtig zu senken.
Als Annalena Baerbock ihre Kanzlerkandidatur verkündete, hatte ihr Auftritt etwas Dynamisches – die passende Titelmusik für den Wahlkampf hätte der Gute-Laune-Hit „Nur noch kurz die Welt retten“ von Tim Bendzko sein können. Wer den Song mit Blick auf Frau Baerbock anstimmt, muss jedoch mitten in der Strophe abbrechen. Denn da heißt es schließlich: „Nur noch kurz die Welt retten, danach flieg ich zu Dir“. Das wird wohl so einfach nicht mehr. „Flieg ich zu Dir“ – das sind die vier Worte, die nach Ansicht der Grünen nicht ohne Weiteres gehen. Denn sollte es sich bei diesem Flug um eine Kurzstrecke handeln, dann soll es den „perspektivisch nicht mehr geben“, wie Annalena Baerbock in dieser Woche erklärte.
Der tatsächliche Nutzen für den Klimaschutz ist seitdem stark umstritten in der Politik – darum geht es hier nicht. Das Glaubwürdigkeitsproblem der Grünen besteht aber nun darin, dass die grüne Fraktion im Bundestag zugleich die Fraktion der Vielflieger ist: In einem Zeitraum vom zwei Jahren entfallen 126 Flüge pro Kopf (!) auf die grüne Fraktion, die dafür plädiert, auf dem Boden zu bleiben.
Nutzen von Flugverbot ist stark umstritten

Diese Kurzstrecken-Kampfansage, so scheint es, war der Beginn einer politisch nicht optimalen Woche der grünen Kanzlerkandidatin. Seit Donnerstag ist bekannt, dass die Parteichefin für 2018, 2019 und 2020 Nebeneinkünfte dem Parlament nicht gemeldet hatte. Von ihrer Partei hat sie Zahlungen von 25.220,28 Euro erhalten. Nun sind die Gelder aus der eigenen Parteikasse nicht vergleichbar zu den Provisionszahlungen der Maskenaffäre von CDU und CSU.
Aber wer die Forderung nach Transparenz und klare Regeln in jedes am Wegesrand stehendes Mikrofon gesprochen hat, der muss den Anforderungen natürlich selbst auf Punkt und Komma genügen. Man stelle sich vor, Armin Laschet oder Friedrich Merz wären einer Anzeigepflicht nicht nachgekommen – der grüne Aufschrei hätte wohl das Potential gehabt, einen gesamtgesellschaftlichen Hörsturz zu verursachen.
Auch Cem Özdemir meldet nach

Allerdings ist Baerbock mit ihrer „Vergesslichkeit“ nicht allein: Denn der Grünen-Politiker Cem Özdemir leistete ebenfalls seinen Beitrag zur Entzauberung seiner Partei. Ähnlich wie seine Vorsitzende hatte auch er vergessen, Sonderzahlungen aus den Jahren 2014 bis 2017 in Höhe von über 20.000 Euro anzuzeigen. Immerhin muss man ihm allerdings zugute halten, dass er nach Affären über die private Nutzung von dienstlichen Flugmeilen des Bundestages schon einmal zurückgetreten ist.
Die Grünen moralisieren auch gerne das Autofahren. Besonderes Feindbild ist das teure SUV, das wegen des Verbrauchs an Platz in der Stadt und CO2 besonders angegangen wird. Eine Umfrage in dieser Woche hat nun ergeben, dass diese Fahrzeuge ausgerechnet bei der gutverdienenden Klientel der Grünen besonders beliebt sind. Vermutlich wird man feststellen, dass die Grünen auch besonders gute Wahlergebnisse in den vornehmen Stadtbezirken mit Einfamilienhaus haben, die ja eigentlich von der Partei aus Klimagesichtspunkten kritisch gesehen werden.
Man weiß, was richtig ist – aber die Taten brauchen länger als die Einsicht
Es geht nicht darum, schmutzige Wäsche zu waschen. Im Gegenteil ist eine Partei, die sich in besonderer Weise um ökologische Fragen bemüht, für unsere Demokratie eine Bereicherung. Auch Transparenz ist eine wichtige Forderung, um das Vertrauen in Regierung und Parlament zu stärken. Aber von der Flug-Debatte bis zur Vergesslichkeit rundum die ordnungsgemäße Anzeige von Nebeneinkünften geht eine Schere auf zwischen Forderungen, die die Grünen an andere richten, und dem eigenen Verhalten.
Wer aus dieser Lage heraus reklamiert, weitere Regeln für die ganze Nation aufstellen zu wollen, wie die Verteuerung von Fleisch im Supermarkt oder das Tempolimit auf deutschen Autobahnen, der sollte seine Anspruchshaltung milder formulieren oder noch einmal überdenken.
Die Grünen sind auch nur Menschen. Fehlbar, vergesslich und manchmal inkonsequent. Wie wir alle. Man weiß, was richtig ist – aber die Taten brauchen länger als die Einsicht. Wir sollten nachsichtig mit den Grünen sein – und die Grünen sollten nachsichtiger mit dem Rest der Republik sein. Das würde uns zumindest ein wenig moralische Last von den Schultern nehmen, wenn wir am langen Pfingstwochenende in ein Grillwürstchen beißen oder 140 km/h auf der Autobahn fahren.


