Unhaltbarer ZustandPflegepersonal mit autistischem Patienten offenbar überfordert – es setzt sogar Gewalt ein

#wallraffen: Günter Wallraff
wallraffen bedeutet: Unter falscher Identität arbeiten, um Missstände aufzudecken. Begleite unsere Reporterinnen und Reporter bei ihren packenden Undercover-Einsätzen!
RTL
von Antonia Galad

Überfordertes Personal, Schläge und Demütigung
Dass in vielen deutschen Pflegeheimen Missstände herrschen, ist kein Geheimnis. Es mangelt häufig an Personal und somit auch an Zeit, sich angemessen um die Bedürfnisse der Bewohner zu kümmern.

Ehemalige Praktikantin meldet sich bei Team Wallraff

Wie aber geht es in einem psychiatrischen Pflegeheim zu, wo Menschen mit psychischen Erkrankungen und Behinderungen leben, die so schwer krank sind, dass sie sich nicht mehr selbst versorgen können? Die Behauptungen einer ehemaligen Praktikantin im Haus der Betreuung und Pflege Buttlarhof lassen Schlimmes vermuten: „Also da war ein Mensch, der wurde fast jeden Tag mindestens so drei, vier Stunden lang fixiert […]. Die haben einfach dann die Tür zugemacht […] Das war der Auslöser, wo ich gesagt habe, hier muss sich definitiv was ändern, und dann bin ich halt auf Team Wallraff gekommen.“

Aufgrund dieses Hinweises hat sich #wallraffen-Reporterin Antonia dort als Praktikantin beworben. Kurze Zeit später konnte sie dort ihre Arbeit aufnehmen. Sie will den Vorwürfen nachgehen. Wird hier wirklich ein Bewohner geschlagen und fast täglich fixiert?

Ein neues Zuhause im Buttlarhof

Im Buttlarhof im hessischen Immenhausen lebt Ferdi (22, Name von der Redaktion geändert). Laut einer Pflegerin leidet er unter Autismus, ADHS, einer posttraumatischen Belastungsstörung und seine Intelligenz ist beeinträchtigt. Von seinem Vater wurde er regelmäßig misshandelt und eingesperrt. Er hoffte im „Haus der Betreuung und Pflege“ ein Zuhause zu finden, in dem sich um ihn gekümmert wird.

Schon bald läuft Ferdi unserer Reporterin das erste Mal über den Weg. Ihr erster Eindruck: „Ferdi, der ist wie so ein kleiner Teddybär sehr tapsig hin und her gelaufen. Mal ist er rückwärtsgelaufen, und mal ist er auch wie ein kleines Kind über die Flure gerannt. Ihm war langweilig und deswegen hat er immer geguckt, was er so machen kann.”

Anzeige:
Empfehlungen unserer Partner

Schreie und Tränen – Ferdi weiß, was jetzt auf ihn zukommt

Immer wieder sucht Ferdi in solchen Momenten die Aufmerksamkeit der Betreuer, doch diese reagieren meist genervt, drehen sich von ihm weg und machen abwertende Kommentare. Doch dabei bleibt es nicht. Bereits an ihrem zweiten Tag in der Einrichtung wird sie Zeugin, wie eine Situation aus dem Ruder läuft und der junge Mann fixiert werden soll, was den Betreuern laut einem richterlichen Beschluss für die Dauer von maximal vier Stunden erlaubt ist. Ferdi schreit und weint, weil er weiß, was auf ihn zukommt. Doch umsonst. Er bekommt eine Windel an und wird fünf-Punkt fixiert: Mit Gurten an den Füßen, an den Händen und am Bauch wird Ferdi an seinem Bett festgezurrt. Allein in seinem Zimmer bei geschlossener Tür, damit seine Schreie die anderen Bewohner in der Mittagsruhe nicht stören. Als Antonias Schicht beendet ist und sie durch das Treppenhaus geht, hört sie ihn noch immer schreien.

Pflegeexpertin Tanja Segmüller ist entsetzt, als sie diese Bilder sieht: „Ich muss mich kurz sammeln. Also, ich empfinde den jungen Mann nicht als so herausfordernd, dass ansatzweise so eine Fixierung notwendig wäre. Er sitzt ruhig auf dem Stuhl. Er weiß, dass er gleich da festgeschnallt wird. Deswegen weint er, hat Angst. Alles, was der junge Mann sagt, wird ja negiert, also die ganze Art und Weise ist unmenschlich, wie mit ihm umgegangen wird. Also mir tut das wirklich weh, wenn ich das sehe.“

Lese-Tipp: #wallraffen: „Für mich ist das die letzte Option” – deutsche Mutter kauft Niere auf dem Schwarzmarkt

Dem Personal scheint klar zu sein, dass hier was schiefläuft

Doch es gibt auch eine andere Seite, die sich am nächsten Tag offenbart. Ferdi hat Geburtstag und entsprechend gute Laune. Und auch das Personal versucht, dem Geburtstagskind einen schönen Tag zu bereiten. Er bekommt ein Geburtstagsständchen, Umarmungen, Süßigkeiten. Er darf sich Lieder wünschen, die auf dem Handy einer Mitarbeiterin abgespielt werden. Es wird sich mit ihm beschäftigt, er bekommt die Aufmerksamkeit, die er sonst so verzweifelt sucht und offenbar viel zu selten bekommt, weil den Pflegekräften die Zeit einfach fehlt. Ihnen scheint klar zu sein, dass sich an der Situation etwas ändern muss, und dass auch das Fixieren in einer eskalierenden Situation keine gute Lösung ist.

Trotzdem: Noch mehrmals wird unsere Reporterin Zeugin, wie die Situation um Ferdi außer Kontrolle gerät und dieser sogar von einer Pflegekraft geohrfeigt wird.

Keine ausreichende Qualifikation und totale Überforderung

Es gibt allerdings Momente, die zeigen, dass hier keine böswilligen Menschen einen Hilfsbedürftigen willkürlich schlecht behandeln, sondern dass grundsätzlich etwas falsch läuft. Das Pflegepersonal wirkt überfordert, Hilfskräfte wie unsere Reporterin werden in schwierigen Situationen teilweise alleingelassen, ohne vorher eine Schulung oder wenigstens eine Einweisung zu bekommen, die sie ansatzweise befähigt, angemessen zu reagieren oder zu handeln.

„Zum Umgang mit dem autistischen jungen Mann hat mir keiner etwas erklärt. Ich habe in der Zeit nicht eine Schulung bekommen und auch nicht eine Information, wie man mit ihm richtig umgeht. Und das hat mich total überfordert“, berichtet unsere Reporterin.

Wir haben beim Buttlarhof wegen der fehlenden Ausbildungsstunden nachgefragt, er schreibt: „Unsere Mitarbeitenden (...) werden regelmäßig im professionellen Umgang mit herausfordernden Situationen geschult.“

Fehler im System

Zudem müsste Ferdi eigentlich in einer Einrichtung untergebracht werden, die auf seine Bedürfnisse zugeschnitten ist und wo sich Menschen besser um ihn kümmern können. Doch auch hier fehlen Kapazitäten, Plätze in entsprechenden Einrichtungen sind schwer zu finden. Seit einem halben Jahr wird versucht, Ferdi an einem geeigneteren Ort unterzubringen – ohne Erfolg.

Doch trotz der Fehler im System, Gewalt gegenüber Schutzbefohlenen ist absolut inakzeptabel.

Dazu schreibt der Buttlarhof: “Sollte sich zeigen, dass eine Betreuung außerhalb unserer (...) Einrichtungen sinnvoller ist, unterstützen wir sie bei der Suche nach einer geeigneten Anschlussunterbringung. Die (...) komplexen psychiatrischen Erkrankungen unserer Bewohnenden erschweren die Suche oftmals. Die bundesweit begrenzten Kapazitäten entsprechender Einrichtungen verstärken diese Herausforderung.”

Als Antonia schließlich erlebt, wie zwei nicht dafür ausgebildete Pflegehelfer mehrere Minuten brauchen, um Ferdi zu fixieren, beschließt sie, am nächsten Tag die Heimleitung zu informieren. Sie berichtet, was sie in den Tagen zuvor alles mitansehen musste. Die Heimleitung ist schockiert, erst recht, als sie erfährt, dass Ferdi geschlagen wurde: „Egal wie überfordert man ist, egal was für einen Stress habe, das darf nicht passieren.“

Wir haben den Buttlarhof auch mit den unsachgemäßen Fixierungen konfrontiert. Die Antwort: „Unser internes Auditteam hat die vollständige Dokumentation, einschließlich der Fixierungsprotokolle, sorgfältig überprüft. Dabei wurden Unregelmäßigkeiten festgestellt, welche weiter untersucht werden. Grundsätzlich gilt: Fixierungen dürfen ausschließlich als letztes Mittel unter engen rechtlichen Vorgaben erfolgen.“

Einrichtung räumt Fehler ein und kündigt Konsequenzen an

In den Tagen nach ihrem Undercover-Einsatz, mit etwas Abstand, wird Antonia erst so richtig klar, was sie im Buttlarhof erlebt hat, und dass es so auf keinen Fall weitergehen kann. Sie entschließt sich, Strafanzeige gegen die Einrichtung zu stellen.

Das Haus der Betreuung Buttlarhof selbst hat uns gegenüber Fehler eingeräumt und Konsequenzen angekündigt: “Nach dem Eingang Ihrer Anfrage haben wir umgehend eine interne Untersuchung der Vorgänge eingeleitet. Diese hat ein inakzeptables Fehlverhalten einzelner Mitarbeitender des Buttlarhofs ans Licht gebracht. Den betroffenen Bewohner und seinen Betreuer bitten wir aufrichtig um Entschuldigung. Das Fehlverhalten einzelner Mitarbeitender entspricht in keiner Weise unseren fachlichen und ethischen Standards im Umgang mit den uns anvertrauten Menschen. Wir haben daher unverzüglich arbeitsrechtliche Maßnahmen eingeleitet. Selbstverständlich haben wir zudem die zuständige Heimaufsicht informiert.”

Ferdi hat ein neues Zuhause

Und wie geht es Ferdi? Von seinem gesetzlichen Betreuer erfährt unsere Reporterin schließlich, dass der junge Mann den Buttlarhof verlassen hat. Mittlerweile lebt er bei einem Ehepaar, das insgesamt nur vier Personen betreut und sich intensiv um sie kümmert. Es soll ihm jetzt viel besser gehen. Das grundsätzliche Problem, so der Betreuer, sei, dass es viel zu wenig ausgebildete Pflegekräfte gebe. Es seien hauptsächlich Pflegehilfskräfte für die Betreuung der Bewohner zuständig, und die seien mit Menschen wie Ferdi total überfordert. Auch gebe es viel zu wenige Einrichtungen, die überhaupt Autisten aufnehmen. Diese haben zudem Wartezeiten von bis zu über einem Jahr.

Auch wenn Ferdi also nun an einem Ort ist, wo sich hoffentlich besser um ihn gekümmert wird, insgesamt bleibt das Problem, dass es für Menschen wie ihn zu wenig Plätze und zu wenig qualifiziertes Personal in Deutschland gibt. (tel)

Die ganze Reportage könnt ihr in #wallraffen auf RTL+ sehen

Podcast zum Thema mit Pflegeexpertin Tanja Segmüller (Team Wallraff – Der Podcast)