Kommentar des RTL-Politikchefs zum Ampel-Aus
Sie haben gar nicht begriffen, was passiert ist
Der Kollaps der Ampel-Koalition war am Ende absehbar und unvermeidlich. Der folgende Realitätsverlust ist spektakulär.
Man kennt die Geschichten von gerade geköpften Hähnen, die noch eine Zeit lang wie aufgedreht über den Hof gerannt kommen, bis sie liegen bleiben, weil sie ja tot sind. Mit allem Respekt: Die Bundesregierung erinnert an so ein bemitleidenswertes Tier. Sie ist politisch tot, aber sie hastet noch umher. Der Bundeskanzler glaubt, er könne noch weiter regieren, weil er ja noch so viel vorhabe.
Scholz ist nackt wie ein Kaiser ohne Kleider
Der Realitätsverlust in Tateinheit mit einer nahezu hemmungslosen Bereitschaft zum Revanchefoul ist spektakulär. Diese Regierung existiert nicht mehr und ihr Kanzler auch nicht. Das ist keine Schande, aber eine Tatsache. Es wird vermutlich noch ein paar Tage dauern, bis das eingesickert ist. Aber es wird sich nichts mehr daran ändern.
Lese-Tipp: Alle Entwicklungen rund um das Ampel-Aus im Liveticker auf RTL.de
Im Deutschen Bundestag hat diese Regierung keine Mehrheit mehr. Weil der wütende Bundeskanzler der FDP und Christian Lindner persönlich die Türe maximal ruppig gewiesen hat, wird sich mit der FDP nicht einmal eine punktuelle Zusammenarbeit noch ergeben. Zu Ende ist zu Ende, dahinter gibt es kein Zurück mehr. Und die Opposition hat nicht die Pflicht, dem mehrheitslosen Regierungschef durch die Tage zu helfen. Wenn ein ganz akuter Beschluss anstünde, von dem das Wohl der Menschen abhinge, dann wäre es anders. Aber von diesem Kaliber ist auf der Restposten-Liste der Ampel auf den ersten Blick nichts zu finden. Anderes wie die Rentenreform war schon unter den Ampel-Parteien so umstritten, dass sie nicht ins Gesetzblatt kamen. Die CDU lehnt sie aus guten Gründen ab.
Video: Jetzt rechnet Lindner mit Scholz ab!
Was also als fulminanter Machtbeweis gedacht und bei wohlwollenden Beobachtern auch so gelesen wird – es ist des Kanzlers Übertritt in die Machtlosigkeit. „Da hat es der Scholz dem Lindner aber mal so richtig gezeigt“? Nein. Der Kanzler hat gezeigt, dass er als Wahlkämpfer zu beißen gedenkt, aber als Regierungschef fertig hat. Der Kanzler mag sein womöglich berechtigte Wut mit Wonne zelebriert haben. Nackt wie der Kaiser ohne Kleider ist er trotzdem.
Mitleid mit Lindner? Von wegen!
Das nennt man Realitätsverlust. Und wird sich nicht nur nebenbei fragen lassen müssen, ob im Ton seiner „caracter assassination“ nicht ein bisschen nah an Donald Trumps Triaden gerückt ist – den die Sozialdemokraten doch so sehr verachten.
Dennoch sollte niemand in Mitleid für Christian Lindner zerfließen. Der FDP-Vorsitzende leidet unter demselben spontanen Totalverlust an Realitätssinn wie Olaf Scholz. Zum einen hat er offenkundig gedacht, er käme tatsächlich ohne größere Blessuren aus der Regierung heraus. Er hat offenkundig auch nicht mit einem vorbereiteten Kanzler-Konter gerechnet, als er die gemeinschaftliche Beendigung der Regierung vorschlug. Und er hat bei seinem Hochrisiko-Manöver nicht einmal den eigenen Laden unter Kontrolle, sodass sich einer der vier FDP-Minister von ihrem Chef lossagt. Volker Wissing wollte Lindner nicht folgen, warum auch immer. Wenn also der Chef einer derzeit unter fünf Prozent gepreisten Partei Neuwahlen und Spaltung in einem riskiert, hat er etwas zu erklären.
Es ist Blut im Wasser bei der FDP
Christian Lindner will das nicht sehen, wie es scheint. Stattdessen erläuterte er am Tag danach, dass er auch einer nächsten Bundesregierung anzugehören gedenkt. Das ist nicht völlig auszuschließen, aber sollte man es verkünden, wenn man keine 18 Stunden zuvor eine andere Regierung mit vor die Wand gesetzt hat? Nein, sollte man nicht. Außerdem erklärte der FDP-Chef, der sonst arg oft wie ein Start-up redet, dass er nach des Kanzlers Wutausbruch besorgt sei um die „politische Kultur“ im Lande. Es gehe ihm um den „Stil in der Öffentlichkeit“. Das ist entweder sehr feine Selbstironie oder unfreiwillig saukomisch. Wenn diese Regierung – auch der FDP-Chef persönlich – die Geduld des Publikums mit etwas strapaziert haben: dann war es nach Ablauf des ersten erfolgreichen, intensiven Krisenbewältigungs-Jahres der eklatante Mangel an Stil und politischer Kultur. Denn gerade zu bürgerlichem Stil und Anstand gehören: Vertrauen. Diskretion. Demut. Denkt man diesen Begriffen als erstes an den gewesenen Finanzminister? Eben.
Lese-Tipp: Was bedeutet das Ampel-Aus für mich?
Man darf die Wette wagen, dass die „Regierung Scholz“, wie Christian Lindner sie nun nennt, kürzer geschäftsführend im Amt ist als der Noch-Kanzler meint. Man darf ebenso die Wette wagen, dass Christian Lindner kein zweites Mal in seinem politischen Leben Finanzminister wird. Die Realität hat sich stets als stärker die beiden erwiesen.