Ein Kommentar

Rammstein-Fan im Dilemma: "Den letzten Song werdet ihr alleine singen müssen!"

An Till Lindemanns Geburtstag: Statue des Rammstein-Sängers gestohlen
Seit fast 30 Jahren Redakteurin Katja Weiß Fan der Band Rammstein. Auch für das Konzert in Paris im Juli hat sie Tickets ergattert. Doch die Vorfreude ist getrübt...
imago images/Gonzales Photo, SpotOn

von Katja Weiß

22. Juli 2023 – Rammstein im Stade de France in Paris. Mehr geht nicht – ein letztes Mal. Nach dieser Tour soll Schluss sein, endgültig. Die Tickets für die Stadiontour in Minuten ausverkauft. Zwei Tickets für Paris – wow! „Ein letztes Mal, so singen wir. Adieu, Goodbye, auf Wiederseh'n“ (Adieu, Rammstein). Das Konzert, für mich ein runder Abschluss, knapp 30 Jahre nach meinem ersten Rammstein Konzert. Doch nach den neuen Vorwürfen frage ich mich: Gehe ich noch hin oder nicht?

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Band greift immer aktuelle Themen auf, legt den Finger in die Wunde

Ich würde mich jetzt nicht als Hardcore-Fan bezeichnen, aber durchaus als jemanden, der Rammstein seit Jahren konstant hört. Hierbei geht es mir um die Musik und die Kunst. Darüber lässt und ließ sich immer schon streiten.

Und auch mir gefallen einige Song überhaupt nicht. „Dicke Titten“ zum Beispiel ist mir einfach zu platt. „Kein Modell mit langen Schritten, doch dicken Tittеn“, klingt für mich mehr nach Ballermann - und da wird man mich nicht finden.

Ja, Rammstein spaltet, das war von Anfang an so. Provokant-poetische Lyrics, hektische Keyboard-Synthies, eine Wahnsinns-Pyroshow – dafür steht Rammstein, das macht die Band aus. Wer jetzt schockiert auf die Liedtexte reagiert, hat sich nicht wirklich mit ihnen beschäftigt. Diesen Satz würde ich nach wie vor unterschreiben, denn damit macht man es sich zu einfach. Sex und Gewalt prägen schon immer die Liedtexte, Videos und die Bühnenshow. Es geht um Inzest („Tier“), Sadomasochismus („Ich tu Dir weh“), aber auch den sexuellen Missbrauch durch Priester („Halleluja“).

Auch das ist Rammstein, die Band greift immer aktuelle Themen auf, legt den Finger in die Wunde. So extrem, dass es beim Zuhören weh tut. Trotzdem: Die Worte, die am häufigsten in den Texten vorkommen, sind Liebe und Herz.

Hat Till Lindemann eine Grenze überschritten?

Rammstein spielt mit Stereotypen von männlicher Macht und der Faszination des Bösen. „Ist nur eine schmale Brücke, die Ufer sind Vernunft und Trieb.“ (Du riechst so gut, Rammstein) – hat Till Lindemann diese Brücke überschritten?

Diese Frage stelle nicht nur ich mir seit Montag vor einer Woche. Seit Shelby Linn Fotos ihrer blauen Flecken veröffentlicht und seitdem immer mehr junge Frauen darüber berichten, was bei den Aftershow-Partys passiert sein soll. RTL berichtet und ich schreibe mit jungen Frauen, die Till Lindemann nach eigener Aussage auf diesen Partys kennengelernt haben.

Lese-Tipp: YouTuberin zum Rammstein-Skandal: „War eins der Mädchen, die rekrutiert wurden“

Die ihn so beschreiben, wie ich ihn erlebt habe zu meinen Radio-Zeiten. Zurückgenommen, eher leise, fast unauffällig – ein Denker und Dichter. Und ich telefoniere am Sonntag mit Shelby; sie klingt ruhig, sehr aufgeräumt und glaubwürdig. Es geht ihr auch nicht darum, die Band oder Till Lindemann fertig zu machen.

Sondern darum, dass die verklärte Betrachtung des Groupie-Daseins, das Anwerben von weiblichen Fans öffentlich werde. Machtmissbrauch ist nicht neu in der Musikbranche, doch nur selten gibt es Konsequenzen wie zuletzt bei R. Kelly, der im vergangenen Jahr zu 30 Jahren Haft wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt wurde.

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Frauen auszunutzen hat nichts mit Rock'n'Roll zu tun!

Der mediale Aufschrei ist laut und richtig. Doch es reicht nicht aus, das System anzuprangern, den Frauen gutgemeinte Tipps zu geben, wie sie Übergriffe verhindern können. Das ist nicht der richtige Ansatz. Am Mittwochabend gibt es das erste Deutschland-Konzert der Tour in München, begleitet von Demonstrationen, ohne Row Zero und Aftershow-Party. Das ist das Mindeste, was Band und Veranstalter leisten können.

Noch halten die meisten Fans zur Rammstein, es gilt die Unschuldsvermutung. Dennoch sind da diese Zweifel. Auch wenn sich die Band um Schadensbegrenzung bemüht. Sie wolle selbst die Vorwürfe aufklären, haben sich von der selbsternannten „Recruiterin“ Alena Makeeva distanziert. Zehn (!) Tage nachdem die ersten Vorwürfe bekannt wurde.

Sorry – aber das ist definitiv zu spät. Ich hätte mir früher eine klare Aussage gewünscht. Ich hätte mir mehr Empathie gegenüber den jungen Fans gewünscht, dass Rammstein sofort direkten Kontakt suchtund den Vorfall klärt. So bleibt ein Vakuum, das viel Raum für Interpretationen lässt – viel mehr als die oft zweideutigen Songtexte.

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Als Fan der Musik kann ich zwischen Show und Person trennen, als Frau muss ich aber ganz klar feststellen, dass uneinvernehmlich Sex zu haben und seine Machtposition auszunutzen mehr als falsch ist und nichts mit Rock n´ Roll zu tun hat.

Ich hätte mir für die Band ein würdevolleres Ende gewünscht – so wird ein fader Beigeschmack bleiben. „Kein Wunder wird geschehen, adieu, goodbye, auf Wiederseh`n“ – den letzten Song werdet ihr alleine singen müssen. Ohne mich!