Die Realo-Träumer von Köpenick
Union Berlin schreibt Bundesliga-Märchen - Spitzenreiter nimmt Super League aufs Korn

Die beste von vielen sehr guten Nachrichten für Union Berlin in diesen wunderbaren Tagen ist: Auch Montag in einer Woche wird der Klub aus Berlin-Köpenick in der Fußball-Bundesliga noch vor den Branchenriesen Borussia Dortmund und FC Bayern München stehen. Nach neun Spieltagen ist der Vorsprung tatsächlich so groß, dass die Titelfavoriten nicht vorbeiziehen können. Das ist, benennen wir es einfach beim Namen, eine Sensation. Punkt.
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Union Berlin kann sich davonschleichen
Und die Lage der Liga könnte sich am kommenden Sonntag noch einmal dramatisch zuspitzen. Denn Union kann sich mit einem Sieg in der heimischen Alten Försterei gegen den BVB auf sieben Punkte von den Schwarzgelben davonschleichen. So heimlich, still und leise, wie sich mit ihrem reduzierten Ansatz durch die Abwehren dieser Welt bewegen und gleichzeitig hinten dicht machen. Ob auch der FC Bayern auf sieben Zähler abreißen lassen muss, entscheidet sich ebenfalls am Sonntag, im Duell mit dem Sensationszweiten SC Freiburg. Verrückt. Alles.
Eigentlich passt bei den Eisernen nichts zusammen. Sie sprechen noch immer davon, 40 Punkte sammeln zu wollen, um den Klassenerhalt einzufahren. Dabei sind sie dem Abstiegskampf doch längst entwachsen. Dass sie sich darum bemühen, den surrealen Aufstieg, der keine Grenzen zu kennen scheint, noch in seriösen Bahnen zu halten, ist ein ehrenwerter Ansatz. Nur beschäftigt sich im Umfeld der Köpenicker niemand mehr damit, was eine Bahnfahrt zum Auswärtsspiel nach Heidenheim nach dem Preisanstieg künftig wohl kosten würde. Vielleicht wird sogar schon zaghaft nach Manchester (City freilich) oder Paris (St. Germain selbstverständlich) gegoogelt.
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Sinneswandel? Aber nein!
Dazu passt ein Tweet aus der Social-Media-Abteilung der Unioner vom späten Sonntagabend. Als Reaktion auf die DAZN-Feststellung, dass die Berliner (die Unioner, damit keine Missverständnisse aufkommen) Tabellenführer sind, forderte das Twitter-Team: "Super League jetzt!" 1.032 Menschen gefällt das. Oder jetzt sogar schon ein paar Menschen mehr. Geht alles so schnell.
Aber die Frage muss erlaubt sein: Was ist bloß los beim Kultklub aus Köpenick? Größenwahnsinniger Sinneswandel? Arroganzanfall? Abkehr von den eigenen Überzeugungen? Nein, sicher nicht! Einfach nur ein wenig Selbstironie. Tabellenführung macht lustig.
Denn die Lage in Köpenick ist ja so: Die Super League verachten sie. Als die Pläne für dieses Monstrum an Gier im vergangenen Frühjahr vorerst gescheitert waren, nach einem aberwitzigen Vorstoß von Real Madrid, da jubelte Union-Boss Dirk Zingler, der sich im gleichen Atemzug für den Erhalt der 50+1-Regel aussprach. In einem Beitrag für die "Berliner Zeitung" schrieb er: "Deckel drauf! Ablösesummen, Spielergehälter, Beraterhonorare – Obergrenzen bei den Ausgaben können uns helfen, der tödlichen Wachstumsspirale zu entkommen.Die 50+1-Regel verhindert den unbegrenzten Einfluss von Anteilseignern und ist ein schützenswertes Gut, wenn man Fußball für Menschen denkt und organisiert."
Und an das Super-League-Mastermind Florentino Pérez, Präsident von Real Madrid, adressierte er noch einen vergiftet-freundlichen Gruß: "Lieber Señor Pérez, haben Sie keine Angst: Die hochgezüchteten Fußballmonster, die nur mit 3,5 Milliarden Euro aus einer Super League zu retten sind, müssen sterben, bevor sie den schönsten Sport der Welt vollends verschlingen." Der mächtige Madrilene hatte gewehleidet, dass sein Klub nur mit Hilfe der Super League am Leben erhalten werden könne. Dass Real ein Jahr später die Champions League gewann, ganz ohne Supergedöns, dürfte Pérez ein paar Argumente entzogen haben.
Ein bisschen wie einst Leicester City
Egal, zurück zu Union. Zurück zum Tabellenführer der Bundesliga, der eine Erinnerung an Leicester City weckt. Im Frühsommer 2016 vollendeten die "Foxes" ihr Märchen in der Premier League. Jamie Vardy und seine Kollegen waren nicht zu stoppen. Nicht vom FC Chelsea, der damals noch mit den aberwitzig vielen Millionen von Roman Abramowitsch gefüttert wurde, und eine Höllensaison bloß auf Platz zehn abschloss. Mittlerweile hat der russische Oligarch verkaufen müssen. Im Zuge der internationalen Sanktionen gegen die superreichen Freunde von Kriegstreiber Wladimir Putin. Und auch nicht von Arsenal, Tottenham, den Manchester-Klubs und Liverpool, das die Debütsaison von Erfolgstrainer Jürgen Klopp nur auf Rang acht beendete.
Von solchen Märchenfantasien sind sie an der Wuhle (Info-Service: der kleine Bach neben dem Stadion) noch weit entfernt. Auch wenn im fernen Stuttgart, wo am Sonntagabend der VfB mit 1:0 besiegt wurde, einige Unioner zart "Deutscher Meister wird nur der FCU"-Gesänge anstimmten. Wie schon nach dem 1:1 gegen die Bayern vor einiger Zeit. Trainer Urs Fischer, die Schweizer Gelassenheit, bekannte: "Für mich ist die Tabelle vor allem aussagekräftig nach dem 34. Spieltag." Derzeit freut er sich über die jetzt schon erreichten 20 Punkte. Die halbe Miete zum Klassenerhalt. (tno)