Umsturz in der Ukraine: "Die Diktatur ist gestürzt"
Das ukrainische Parlament hat die Oppositionsführerin Julia Timoschenko aus der Haft befreit und den Präsidenten Viktor Janukowitsch für abgesetzt erklärt. Das Abgeordnetenhaus in Kiew kündigte für den 25. Mai die Wahl eines neuen Staatschefs an. Janukowitsch erklärte die Beschlüsse für "gesetzwidrig". Er werde nicht zurücktreten und auch nicht das Land verlassen.

Timoschenko verließ nach mehr als zweieinhalb Jahren das Gefängnis in Charkow und landete bald darauf in Kiew, wo die Regierungsgegner die Kontrolle übernommen haben. Sie wollte bei der nächsten Präsidentenwahl kandidieren, sagte die wohl beliebteste Politikerin des Landes. Im Februar 2010 hatte sie die Präsidentenwahl gegen Janukowitsch verloren. "Die Diktatur ist gestürzt", verkündete die 53-Jährige. EU-Parlamentschef Martin Schulz nannte die Freilassung der Ex-Regierungschefin einen "historischen Augenblick für die Ukraine und für Europa".
Wenig später stoppt der Grenzschutz nach eigenen Angaben ein Flugzeug mit Präsident Viktor Janukowitsch kurz vor dem Abflug. Janukowitsch habe - begleitet von bewaffneten Sicherheitsleuten - ohne die übliche Grenzabfertigung von der Stadt Donezk aus fortfliegen wollen. Das sagte der Sprecher des Grenzschutzes, Sergej Astachow, der Agentur Interfax zufolge. Janukowitsch sei letztlich aus dem Flugzeug ausgestiegen und habe den Ort in einer gepanzerten Limousine verlassen.
Indes sprach Oppositionspolitiker Vitali Klitschko von einem "politischen K.O." für Janukowitsch. In Kiew schützten sogenannte Selbstverteidigungskräfte das Parlament, den Regierungssitz und die Präsidialkanzlei vor Übergriffen. Die Sicherheitsorgane des Innenministeriums liefen zur Opposition über. Die Armee erklärte, sie werde sich nicht in den Machtkampf einmischen.
"Jetzt kontrolliert der Maidan Kiew"
Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier schätzte die Lage trotz eines Abkommens zwischen den Konfliktparteien als "höchst fragil" ein. "Die Vereinbarung ist keine Garantieerklärung für eine friedliche Entwicklung der Ukraine mit einer politischen Zukunft, die das Land beieinander hält", sagte Steinmeier in Hofgeismar (Hessen).
Im 'Spiegel' lobte der SPD-Politiker Russlands Rolle bei den jüngsten Verhandlungen in Kiew. Moskaus Unterhändler Wladimir Lukin habe sehr konstruktiv mitverhandelt. Am Freitag hatten Regierung und Opposition auch unter Vermittlung Steinmeiers einen Kompromiss beschlossen, der einen politischen Ausweg ebnen soll.
Die Oberste Rada in Kiew wählte mit großer Mehrheit den früheren Vizeregierungschef Alexander Turtschinow zum neuen Parlamentspräsidenten. Er ist ein Vertrauter Timoschenkos. Der bisherige Rada-Chef Wladimir Rybak hatte zuvor seinen Rücktritt erklärt. Turtschinow soll bis zur Ernennung einer Übergangsregierung die Kabinettsarbeit steuern. Zum Innenminister wurde der Oppositionelle Arsen Awakow bestimmt, Generalstaatsanwalt Viktor Pschonka hingegen entlassen. Viele TV-Sender übertrugen die Sitzung.
Experten wiesen darauf hin, dass der Staatschef trotz des Parlamentsbeschlusses formal weiter im Amt sei. Ein juristisch korrektes Amtsenthebungsverfahren müsse mehrere Hürden überwinden. Mehrere Kabinettsmitglieder sollen ins Ausland geflohen sein, darunter der vom Parlament abgesetzte Innenminister Witali Sachartschenko.
In Charkow, einer Machtbasis Janukowitschs, trafen sich Delegierte aus dem prorussischen Osten und Süden der Ex-Sowjetrepublik zu einem Kongress der sogenannten Ukrainischen Front. Dabei warfen sie der Opposition einen Staatsstreich mit Hilfe der EU und der USA vor.
Bei blutigen Zusammenstößen von Regierungsgegnern mit der Polizei in Kiew waren in den vergangenen Tagen auf beiden Seiten mindestens 82 Menschen getötet und Hunderte verletzt worden. "Wir fordern den sofortigen Rücktritt des Präsidenten", sagte der Kommandant des Unabhängigkeitsplatzes (Maidan), Andrej Parubij. "Jetzt kontrolliert der Maidan ganz Kiew." In westlichen Regionen hatten Regierungsgegner schon zuvor die Kontrolle über Verwaltungsgebäude übernommen.
Die Demonstrationen gegen Janukowitsch waren Ende November ausgebrochen, nachdem der Staatschef auf Druck Russlands ein historisches Partnerschaftsabkommen mit der EU auf Eis gelegt hatte.
Timoschenko war im Oktober 2011 wegen Amtsmissbrauchs trotz internationaler Proteste zu sieben Jahren Straflager verurteilt worden. In dem nach Ansicht internationaler Beobachter politisch motivierten Verfahren wurde ihr ein Abkommen mit Russland über Gaslieferungen zum Nachteil der Ukraine zur Last gelegt.