Ukrainischer Übergangspräsident: "Wir müssen zum Europa-Kurs zurückkehren"
In rasendem Tempo übernehmen die Gegner des abgesetzten Präsidenten Janukowitsch in der Ukraine die Schalthebel der Macht. Das gesamte politische System steht auf dem Prüfstand. Eine Schlüsselrolle spielt die aus der Haft entlassene Julia Timoschenko.

Im Eilverfahren besetzten die bisherigen Regierungsgegner die wichtigsten Posten. Das Parlament bestimmte am Sonntag seinen neuen Chef Alexander Turtschinow zugleich zum Übergangspräsidenten. In einer Ansprache an die Nation versprach er einen Westkurs und betonte zugleich die Wichtigkeit der Beziehungen zum Nachbarn Russland. "Vorrang hat für uns, zum Kurs der Annäherung an Europa zurückzukehren", sagte Turtschinow in einer Ansprache an die Nation. "Wir müssen in den Kreis der europäischen Länder zurückkehren."
Die Weigerung des gestürzten Präsidenten Viktor Janukowitsch, ein historisches Abkommen mit der EU zu unterschreiben, hatte die monatelangen Proteste in der Ukraine ausgelöst. Das Parlament hatte Janukowitsch am Samstag für abgesetzt erklärt und am Sonntagvormittag Turtschinow zum vorläufigen Staatschef bestimmt. Die Abgeordneten beschnitten die Vollmachten des Staatschefs und setzten vorgezogene Präsidentenwahlen für den 25. Mai an. Dann will auch die Ex-Regierungschefin Timoschenko kandidieren.
Janukowitsch lehnte einen Rücktritt ab. Der prorussische Politiker, der nach Angaben des Grenzschutzes das Land verlassen wollte, sprach von einem "Staatsumsturz" und "gesetzeswidrigen" Parlamentsbeschlüssen. Sein Aufenthaltsort war unbekannt. Tausende Schaulustige inspizierten seine Residenz bei Kiew.
Lage der Ukraine "katastrophal"
Turtschinow versprach demokratische Präsidentenwahlen am 25. Mai. Janukowitschs Anhänger rief er auf: "Betrachtet seinen persönlichen Sturz in einem blutigen Drama nicht als Niederlage! Er hat vor allem Euch betrogen, die an ihn geglaubt haben." Auch die Interessen der bisherigen Janukowitsch-Wähler würden geschützt werden, versprach er.
"Unsere erste Aufgabe ist es, die Konfrontation zu stoppen", sagte Turtschinow. Die künftige Regierung müsse zudem ein Abrutschen des fast bankrotten Landes in den wirtschaftlichen Abgrund aufhalten, mahnte er. Die Dutzenden Opfer, die bei den Protesten getötet worden waren, würdigte er als "Helden".
"Die Diktatur ist gestürzt", verkündete die 53-jährige Timoschenko nach ihrer Freilassung. Sie reiste sofort zum zentralen Ort der Revolution, dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan) in Kiew. Im Rollstuhl forderte die kranke Politikerin vor mehr als 100.000 Menschen in einer emotionalen Rede, den "Kampf für die Freiheit" der Ukraine bis zum Ende zu führen.
Das Parlament hatte zuvor die Entlassung von Janukowitschs Erzfeindin nach rund zweieinhalb Jahren umstrittener Haft angeordnet. Sie war im Oktober 2011 wegen Amtsmissbrauchs trotz internationaler Proteste zu sieben Jahren Straflager verurteilt worden. In dem nach Ansicht internationaler Beobachter politisch motivierten Verfahren wurde ihr ein Abkommen mit Russland über Gaslieferungen zum Nachteil der Ukraine zur Last gelegt.
Bundeskanzlerin Angela Merkel gratulierte Timoschenko in einem Telefonat zu ihrer Freilassung. Die CDU-Chefin halte Timoschenkos Rückkehr in die Politik für einen der wichtigsten Faktoren zur Stabilisierung der Lage in der Ex-Sowjetrepublik, teilte Timoschenkos Vaterlandspartei (Batkiwschtschina) mit. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton mahnte maßvolles Handeln der neuen Machthaber an. Sie will am Montag nach Kiew reisen.
Der kommissarische Innenminister Arsen Awakow teilte mit, 64 bei Protesten festgenommene Regierungsgegner seien auf freien Fuß gesetzt worden. Bei blutigen Straßenkämpfen zwischen Sicherheitskräften und Regierungsgegnern in Kiew waren seit Dienstag mindestens 82 Menschen auch durch Scharfschützen getötet worden.
Übergangspräsident Turtschinow macht aber auch deutlich, dass die wirtschaftliche Lage der Ukraine "katastrophal" sei. Der Internationale Währungsfonds IWF zeigte sich bereit, das fast bankrotte Land zu unterstützen. Nötig seien aber legitimierte Gesprächspartner, sagte IWF-Chefin Christine Lagarde in Sydney beim Treffen der G20-Finanzminister. Sowohl Ashton als auch Steinmeier stellten finanzielle Unterstützung in Aussicht. Steinmeier sagte, in einem Telefonat zwischen Kanzlerin Merkel und dem russischen Präsidenten Wladimir Putin am Sonntag sei es bereits darum gegangen, "nach Wegen und Möglichkeiten zu suchen, die Ukraine wirtschaftlich zu stabilisieren". Laut Bundesregierung telefonierte Merkel auch mit Frankreichs Präsident François Hollande.
Auf frisches Geld aus Russland muss die Ukraine hingegen weiter warten. Der russische Finanzminister Anton Siluanow bekräftigte, dass Moskau zunächst die Regierungsbildung abwarten wolle, bis es von Putin zugesagte Milliardenhilfen weiter auszahle.
Janukowitsch hatte Ende November auf Druck Russlands ein historisches Abkommen mit der EU über engere Zusammenarbeit auf Eis gelegt - der Auslöser für die Proteste, die schließlich zu seinem Sturz führten.