Alleingelassen in deutschen Krankenhäusern - "Team Wallraff" undercover"Ich will Sie nicht belästigen": Wenn ältere Patienten sich nicht trauen, um Hilfe zu bitten

Wer im Krankenhaus liegt, braucht medizinische Hilfe. Um schnell reagieren zu können, ist an Patientenbetten eine Notfallklingel angebracht, die Patienten drücken sollen, wenn es ihnen nicht gut geht oder sie spontan die Unterstützung der Pflegekräfte oder Ärzte benötigen. So weit die Theorie. Das Problem: Nicht alle Patienten scheinen sich überhaupt zu trauen, nach Hilfe zu rufen. Der häufige Grund: Sie wollen das vielbeschäftigte Personal offenbar nicht stören.

"Heute Nacht habe ich gedacht, ich sterbe"

Viele Patienten, wenig Personal und kaum Zeit? Dass viele Ärzte und Pfleger in deutschen Krankenhäusern unter enormem Stress stehen, merken auch die Patienten. „Heute Nacht habe ich gedacht, ich sterbe“, erzählt eine ältere Dame „Team Wallraff“-Reporterin Zarah unter Tränen bei deren Undercover-Einsatz im St. Vincenz-Krankenhaus in Limburg.

Die Frau war nach dem Gassigehen mit ihrem Hund ins Krankenhaus gekommen, hatte in der Nacht Herzrasen. Nach Hilfe gerufen hat sie trotzdem nicht. Wie sie Zarah weinend gesteht, habe sie sich nicht getraut – aus Angst zu stören: „Ich will doch die armen Menschen nicht belästigen. Die haben so viel.“

"Ich will Sie ja nicht ständig mit dem Klingeln stören"

Offenbar kein Einzelfall, wie Zarah während ihres Pflegepraktikums in der hessischen Klinik erfahren muss. Etwas später am Tag erzählt auch eine andere Patientin der Undercover-Reporterin schluchzend, dass sie Hemmungen hat, nach Hilfe zu rufen: „Ich will Sie ja nicht ständig mit dem Klingeln stören. Ich strapaziere die ganze Station.“

Zarah kann die Patientin beruhigen, doch der Eindruck bei ihr bleibt – Patientinnen und Patienten fühlen sich hier teilweise alleingelassen: „Man merkt einfach, wenn Patienten mehr Zuwendung brauchen als das übliche Waschschüssel hinstellen, Essen hinstellen“, so Zarah. Leider scheint dafür während ihres Einsatzes oft einfach keine Zeit zu sein.

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"Wir haben keine Zeit für die ganzen Gespräche, so traurig es ist"

Das bestätigen auch andere Pflegekräfte im St. Vincenz-Krankenhaus. Als Zarah von den weinenden Patientinnen erzählt, ermahnen sie sie zunächst, mehr auf die Zeit zu achten. Ganz kalt scheint sie die Situation aber nicht zu lassen. Eine Kollegin zeigt sich nachdenklich: „Wir haben keine Zeit für die ganzen Gespräche, so traurig es ist.“

"Mir wäre es lieber gewesen, wenn ich jetzt hätte abdanken können"

Insgesamt drei ältere Patientinnen haben Zarah an diesem Tag unter Tränen berichtet, dass sie sich alleingelassen fühlen. Vor allem ein Fall bringt die Undercover-Reporterin emotional an ihre Grenzen.

Eine 87 Jahre alte Dame ist wegen eines gebrochenen Oberarms im Krankenhaus. Dass sie sich deshalb kaum noch bewegen kann, macht ihr schwer zu schaffen. So schwer, dass sie mehrfach äußert, nicht mehr leben zu wollen.

Als Zarah ihr das Frühstück bringt, sitzt sie zusammengesunken auf einem Stuhl am Fenster. Sie hat starke Schmerzen und fängt plötzlich an zu weinen. „Wie kann man so abhängig sein? Was ist das noch, wenn man sich nicht bewegen kann? Mir wäre es lieber gewesen, wenn ich jetzt hätte abdanken können. Dass jetzt Schluss gewesen wäre.“

Die alte Dame erzählt Zarah mehrfach, dass sie nicht mehr leben möchte. Als die „Team Wallraff“-Reporterin bei den anderen Pflegekräften nachfragt, ob man etwas für die Dame tun könne, scheinen diese wenig berührt zu sein: „Das ist so bei alten Leuten. Die hat keinen Bock mehr.“

Expertin: Patientin braucht psychologische Betreuung

Günter Wallraff fragt Dr. Sara Aytac, Oberärztin für Unfallchirurgie und Orthopädie, wie die Pflegekräfte in diesem Fall hätten reagieren sollen. Für die Medizinerin ist klar: Die Patientin müsste psychologische Betreuung bekommen. „Wenn es eine 16-jährige Patientin wäre, würde man auch reagieren. Warum reagiert man bei einem alten Menschen nicht? Es gibt in jedem Krankenhaus Psychologen. (...) Einen Patient, der sagt, ich möchte sterben, kann man nicht einfach so abtun.“

Die Klinik schreibt hierzu: „Für die psychologische Betreuung sind neben den Pflegefachkräften speziell ausgebildete Psychologen, die Klinikseelsorge sowie ehrenamtliche Mitarbeiter (...) auf den Stationen im Einsatz. (…) Sollte der behandelnde Arzt außerdem den Eindruck haben, Patienten würden psychologische Unterstützung benötigen (z. B. wenn ein Patient den Wunsch äußert zu sterben), ordnet er ein psychologisches Konsil an.“

"Es hat doch keiner Zeit"

Auch als Zarah an ihrem letzten Tag nochmal mit der 87-jährigen Patientin spricht, geht es ihr nicht besser. Wieder erzählt sie ihr, dass sie lieber sterben würde. „Es wäre das Beste gewesen, wenn ich die Augen hätte zumachen dürfen. Ganz zumachen dürfen.“ Unter Tränen beklagt sie, dass heute oft kein Verständnis da sei. „Es hat doch keiner Zeit.“

Ein Problem, das sich durch Zarahs gesamtes Pflegepraktikum zieht. Die Undercover-Reporterin hat während ihres Praktikums jedenfalls den Eindruck, dass sich die Pflegekräfte gerne mehr um den einzelnen Patienten kümmern würden, doch oft fehle offenbar einfach die Zeit – und da bleibe Zwischenmenschliches offenbar immer wieder mal auf der Strecke. (akr)

Video-Playlist zu "Team Wallraff"

"Team Wallraff – Reporter undercover“ auf RTL+

Die ganze Reportage von „Team Wallraff – Reporter undercover“ sehen Sie am Donnerstag um 20.15 Uhr bei RTL und anschließend zum Abruf auf RTL+.