Löws letzter Plan für die EM
Der Absolut-auf-Nummer-sicher-Kader

von Torben Siemer
Kadernominierungen sind die große Zeit von Fußballexperten mit Meinung. Dieser Spieler hätte dabei sein müssen, jener dagegen gestrichen werden sollen. Bundestrainer Joachim Löw beruft für seine letzte EM allerdings ein Aufgebot, das nur wenig Erregungspotenzial bietet.
Ein Kader mit bemerkenswert wenig Erregungspotenzial
Einen David Odonkor hat Joachim Löw diesmal nicht nominiert. Dessen Berufung in die deutsche Fußball-Nationalmannschaft für die WM 2006 sorgte seinerzeit für erstaunte bis schockierte Gesichter. Nun aber, 15 Jahre später, ist Löw nicht nur längst vom Co- zum Cheftrainer aufgestiegen. Sondern hat für die EM 2021, sein letztes großes Turnier in Diensten des DFB, auch eine Auswahl getroffen, die bemerkenswert wenig Erregungspotenzial bietet.
Die traditionellen Vorwürfe, Löw würde in seinen Nominierungen nicht allein nach Leistung gehen, sondern auch Loyalität belohnen, sie dürften diesmal ausblieben. Natürlich ließe sich diskutieren, ob anstelle des Freiburgers Christian Günter ("Ich kann es noch nicht in Worte fassen, ich bin sehr überrascht gewesen") nicht auch Ridle Baku vom VfL Wolfsburg eine Teilnahme verdient gehabt hätte. Aber dabei geht es dann eben um die Kaderplätze 24 bis 26, die die UEFA den EM-Teilnehmern zugesteht, damit denkbare Quarantäne-Anordnungen bloß nicht den Ablauf des Milliardenprojekts stören.
Herr Neuer, wie geht's dem Fuß?
Entscheidungen, die Löw nicht treffen muss
Überraschend ist sicherlich, dass Kevin Volland in den Kreis der Nationalelf zurückkehrt. Aber auch nur für diejenigen, die dessen Saison in Monaco nicht verfolgt haben. Der 28-Jährige ist bei der AS ein Fixpunkt in der Offensive, 16 Tore und 8 Vorlagen und die (zugegeben sehr theoretische) Chance, am letzten Spieltag dem OSC Lille und Paris St. Germain noch die Meisterschaft zu entreißen, sind Qualifikation genug. Zumal Volland die Planstelle "Klassischer Mittelstürmer" füllen soll, die seit dem Karriereende von Miroslav Klose offen ist. Vollands Qualität als Abschlussspieler bringt in dieser Form niemand mit. Wobei auch mit Volland ein Kopfballungeheuer, als das besonders der junge Klose ja gefürchtet war, auch weiter fehlt.
Während Löw bei vorangegangenen Turnieren immer wieder für Überraschungen sorgte, erscheint dieser 26-köpfige Kader so folgerichtig wie wohl keiner in seiner anderthalb Jahrzehnte währenden Amtszeit. Was eben auch bedeutet, dass Julian Draxler den ersten turnierfreien Sommer seit 2012 erlebt, in dem der damals 18-Jährige nach der EM-Vorbereitung zu den Aussortierten gehörte. Weil Löw diesmal ein solches Casting auslässt und gleich den endgültigen Kader beruft, ist der in seinen Leistungen für Paris St. Germain wechselhafte Draxler nicht dabei. Schließlich hatte Löw ihm im Herbst 2020 zu einem Wechsel geraten und ihn im März dieses Jahres für die WM-Qualifikation nicht eingeladen.
"Wir haben gesagt, dass wir […] alles dem Erfolg unterordnen", erklärte Löw sein Vorgehen bei der Kaderplanung. Durchaus untypisch für den 61-Jährigen, der unabhängig vom Ausgang der EM auf eine überaus erfolgreiche Zeit als Bundestrainer zurückblicken darf, dabei aber immer auch für taktische Experimente gut war und die Suche nach dem schönen, dem ansehnlichen Spiel betrieb, oftmals mit positivem Ausgang. Das Abschiedsturnier aber bestreitet er mit einem Kader, der auf Erfolg getrimmt ist. Was nichts besser verdeutlicht als die Rückkehr von Thomas Müller und Mats Hummels, die 2019 schon nicht aus Leistungsgründen gestrichen worden waren und nun so starke Saisons in ihren Vereinen spielen, dass eine Nicht-Nominierung im Widerspruch dazu geständen hatte, mit dem bestmöglichen Aufgebot anzutreten.
Keine kniffligen Entscheidungen mehr

Auch zur Wahrheit gehört dabei, dass Löw die wenigen kniffligen Entscheidungen abgenommen wurden, die sonst jetzt zur Diskussion stünden. Durch die verletzungsbedingte Absage von Marc-André ter Stegen fällt die Frage weg, ob es nicht Zeit für einen Wechsel im deutschen Tor wäre und ob nun Bernd Leno oder Kevin Trapp als Nummer drei mitreisen. Beide sind dabei, spielen wird jedoch nur Manuel Neuer. Marco Reus' Bitte um Erholung für den geschundenen Körper nach einer kräftezehrenden Saison erübrigt die Diskussion, ob im üppig und hochklassig besetzten deutschen Mittelfeld nicht auch der viel zu oft verletzte Dortmunder auflaufen müsste.
Dort wird stattdessen der form- und im allerbesten, weil konstruktiven Sinne lautstarke Thomas Müller seinen festen Platz finden. Der beste deutsche Profi des besten deutschen Vereins, der in den vergangenen 15 Monaten sieben Titel gewonnen hat, darf diesen Anspruch stellen. Ein mögliches Hierarchie-Problem, weil Müller von außen kommt, aber anführen will, dürfte angesichts der Bayern-Dominanz im Kader kein Problem werden. Der Münchner Block dominiert seit jeher die DFB-Elf, weshalb Müller Akzeptanz sicher sein dürfte.
Ähnlich dürfte es sich mit Mats Hummels verhalten, der zwar "nur" im aktuell tabellarisch drittbesten Bundesliga-Klub spielt, dafür aber die seit langem konstanteste Defensivkraft mit DFB-Erfahrung ist. Denkbar ist etwa eine Dreierkette mit dem ebenfalls formstarken, aber turnierunerfahrenen Antonio Rüdiger und mit entweder Matthias Ginter oder Robin Koch an seiner Seite. Dass Hummels und Müller aber überhaupt wieder da sind, ist zuallererst der Tatsache geschuldet, dass beide sich mit weit überdurchschnittlichen Leistungen aufgedrängt haben.
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Schlicht nicht sensationell

Hummels kommt dabei zugleich die Aufgabe zu, die zu oft zu wacklige Abwehr zu stabilisieren. Das ist in seiner Abwesenheit nämlich dem hoch gehandelten aber erst verletzten und dann auch beim FC Bayern - wo er ebenfalls Hummels ablöste - längst nicht mehr unumstrittenen Niklas Süle gelungen noch Ginter, die sich nun wieder hinter dem ja auch erst 32 Jahre alten Abwehrchef werden anstellen müssen. Robin Gosens wird eine Option, wenn Löw auf eine Viererkette zurückgreift.
In der Offensive, die nicht nur der DFB in den Nominierungen schon lange als "Mittelfeld/Angriff" zusammenfasst, ist die Konkurrenz zwar umso größer, eine echte Sensation ist aber auch dort nicht zu finden. Julian Draxler und Julian Brandt fehlen leistungsbedingt, weshalb Florian Neuhaus und Emre Can wiederum dabei sind. Die Berufungen von Serge Gnabry, Leon Goretzka, İlkay Gündoğan, Kai Havertz, Joshua Kimmich, Toni Kroos und Leroy Sané standen nie in Frage, Timo Werner kommt das Formhoch des FC Chelsea unter Thomas Tuchel zu Gute. Die Torquote aus Leipziger Zeiten ist zwar noch weit weg, die Wertschätzung für ihn rund um die Blues steigt trotz so mancher vergebener Großchance dennoch zusehends.
Jamal Musiala ist mit gerade 18 Jahren der mit weitem Abstand jüngste Spieler im deutschen EM-Kader und soll deshalb vor allem dabei sein, um zu lernen und gegebenenfalls punktuell Akzente zu setzen, wie es ihm beim FC Bayern bereits gelingt. Jonas Hofmann fällt insofern wohl in die selbe Kategorie wie Christian Günter, dass er von der Vergrößerung des Kaders profitiert. Die Einsatzzeiten beider dürften sich aber auf die Testspiele beschränken.
Und so steht am Ende eben ein Kader, mit dem der Bundestrainer Joachim Löw keine Kontroversen auslöst, sondern in der jede einzelne Personalie gut begründbar und nachvollziehbar erscheint. In der Hoffnung, mit einem starken letzten Turnier beim DFB in Erinnerung zu bleiben.