Usyk vs. Joshua II Der große 12-Runden-Check zum Box-Spektakel des Jahres

Boxing - WBA, IBF & WBO Heavyweight Titles - Anthony Joshua v Oleksandr Usyk - Tottenham Hotspur Stadium, London, Britain - September 25, 2021 Anthony Joshua  in action against Oleksandr Usyk Action Images via Reuters/Andrew Couldridge     TPX IMAGES OF THE DAY
WBA, IBF & WBO Heavyweight Titles - Anthony Joshua v Oleksandr Usyk
ca, Action Images via Reuters, ANDREW COULDRIDGE
von Martin Armbruster

Der Schwergewichts-Kampf des Jahres steht an. Oleksandr Usyk und Anthony Joshua treffen am Samstagabend in Dschidda zu ihrer heiß erwarteten Revanche aufeinander – es geht um die WM-Titel von WBA, WBO und IBF sowie den prestigeträchtigen Gürtel der Box-Bibel „The Ring“. Beim ersten Schlagabtausch im Herbst 2021 hatte Usyk dem Briten die Glitzer-Titel der Weltverbände in London durch eine boxerische Lehrstunde entrissen. Kann „AJ“ im zweiten Teil den Spieß umdrehen oder gibt’s vom Ukrainer erneut auf die Murmel? RTL schickt die Kontrahenten zum großen 12-Runden-Check in den Ring - von der Physis über die Schlaghärte bis hin zu den vielzitierten "Nehmerqualitäten". Es gilt das 10-Point-Must-System: Der Sieger eines Durchgangs bekommt 10, der Verlierer 9 Punkte. Sind keine Vorteile auszumachen, wird unentschieden gepunktet.

Runde 1: Physis

1,98 Meter groß, Kampfgewicht von 110,9 Kilogramm, dazu eine Armspannweite von 208 Zentimetern: Joshua ist das Musterbeispiel des modernen (Super-)Schwergewichtlers. Usyk dagegen verkörpert das Schwergewicht der Muhammad-Ali- oder Larry-Holmes-Ära. Der Titelverteidiger ist mit 1,90 Meter deutlich kleiner, hat klare Reichweiten-Nachteile (198 cm), bringt kaum mehr als 100 Kilo (100,47 Kilo, um genau zu sein) auf die Waage. Kein Zweifel: rein physisch ist Joshua klar im Vorteil.

10:9 Joshua

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Runde 2: Erfahrung

Usyk begann wesentlich früher mit dem Boxen als sein Herausforderer, legte bei den Amateuren eine Bilderbuchkarriere hin. Von 350 (!) Kämpfen verlor er läppische 15, wurde 2011 Weltmeister, ein Jahr später Olympiasieger. Auch bei den Profis hat die „Katze“ viel erlebt. Im Cruisergewicht krönte sich Usyk 2018 zum unumstrittenen Champion, schlug die versammelte Konkurrenz im Limit bis 90,72 kg auf deren Terrain. Der Aufstieg in die Königsklasse gelang – auch, weil Usyk 2020 einen echten Härtetest gegen das unverwüstliche Schlachtross Dereck Chisora bestand.

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Allerdings kann auch Joshua aus einem reichen Erfahrungsschatz schöpfen. Eine epische Ringschlacht mit Hall-of-Famer Wladimir Klitschko, Siege gegen Top-Contender wie Alexander Povetkin und Joseph Parker, ein Waterloo im Madison Square Garden gegen Andy Ruiz mit anschließender Rehabilitierung in Saudi-Arabien. Zuletzt die Pleite gegen Usyk, die Joshua ebenfalls als wertvolle Erfahrung sieht. Unterm Strich sind hier keine eindeutigen Vorteile auszumachen.

10:10 Unentschieden

Runde 3: Schlaghärte

Joshua schlägt nach Deontay Wilder wahrscheinlich die härteste Kelle im Schwergewicht. Usyk hat im Hinkampf gegen Joshua oder bei seinem Sieg über Tony Bellew zwar gezeigt, dass auch er ordentlich hinlangen kann. Vernichtende K.o.-Keulen sind aber nicht das Markenzeichen des Box-Künstlers.

10:9 Joshua

Runde 4: Defensive

Ob gegen Dillian Whyte, Wladimir Klitschko, Alexander Povetkin, Andy Ruiz oder Usyk – Joshua war in der Vergangenheit allzu oft ein verhältnismäßig einfach zu treffendes, weil stehendes Ziel. Der Brite agiert häufig zu statisch, Pendelbewegungen mit Kopf und Oberkörper sind nur schwach ausgereift. Bei eigenen Aktionen ist Joshua teilweise zu offen und so anfällig für Konterattacken des Gegners. Ganz anders Usyk: Der Rechtsausleger geht mit flüssigen Side Steps den Schlaghänden der Gegner aus dem Weg, ist mit seiner Doppeldeckung stets auf der Hut. Usyk sieht Schläge kommen – den unerwarteten, schweren Volltreffer hat er so bis dato noch nicht kassiert. In keinem seiner 19 Profikämpfe wirkte der Ukrainer angeschlagen oder geriet ins Taumeln.

10:9 Usyk

 JEDDAH, SAUDI ARABIA - AUGUST 20: Oleksandr Usyk and Anthony Joshua pose for the cameras during the weigh-in for the Rage on the Red Sea Heavyweight Title Fight at King Abdullah Sports City Arena on August 20, 2022 in Jeddah, Saudi Arabia. Photo by Khalid Alhaj/MB Media SPO PUBLICATIONxINxGERxSUIxAUTxONLY Copyright: xKhalidxAlhaj/MBxMediax
Oleksandr Usyk (links) and Anthony Joshua in Dschidda, Saudi Arabien.
www.imago-images.de, IMAGO/MB Media Solutions, IMAGO/Khalid Alhaj/MB Media

Runde 5: Führhand

Der vielleicht wichtigste Schlag im Boxen. Mit dem Jab geben die Boxer im Ring den Takt vor, kontrollieren die Distanz, bereiten ihre schweren Hämmer vor. Joshua schlägt eine gute, harte Führhand und zeigte im Rematch gegen Ruiz, dass er mit seiner langen Linken ein Gefecht gegen einen kleineren Mann „von draußen“ diktieren kann. Der übergewichtige, tapsige Mexikaner bot hierfür allerdings auch das ideale Übungsobjekt. Gegen Kubrat Pulev und zuletzt Usyk kam Joshuas Jab aber zu langsam und ließ Autorität vermissen.

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Für Southpaw Usyk ist die rechte Führhand ein Schlüsselschlag: Mit ihr punktet er nicht nur verlässlich, sie dient ihm auch als „Fühler“, um sich in die richtige Distanz für seine schnellen Kombinationen zu schieben. Oft schlägt Usyk den Jab hierfür in zweifacher oder gar dreifacher Ausführung – gerade gegen größere Gegner ein probates Mittel. Alles in allem ist Uskys Rechte schneller, präziser und verlässlicher als Joshuas Linke.

10:9 Usyk

Runde 6: Variabilität

Wieder eine Usyk-Runde. Kaum ein Schwergewichtler ist derart variabel wie der Mann von der Krim. Usyk glänzt mit schnellen Schlagsalven zu Kopf und Körper, fintiert gekonnt, geht „rein in den Mann“ und wieder raus, kann einen Kampf sowohl im Vorwärtsgang mit kontrollierter Offensive als auch im Rückwärtsgang durch Konteraktionen bestimmen. Im Vergleich dazu wirkte Joshua im Tottenham Stadium geradezu eindimensional. „AJ“ hat zwar durchaus ein großes Schlagrepertoire auf dem muskulösen Kasten – er konnte es meist aber nur gegen schwächere Gegner abrufen oder wenn er einen Kontrahenten dank seiner Power „soweit“ hatte.

10:9 Usyk

Runde 7: Beinarbeit

Die nächste Usyk-Domäne. Der 35-Jährige ist praktisch die Schwergewichts-Version seines Landsmanns Vasiliy Lomachenko. Auf flinken Beinen schwirrt Usyk um seine meist schwereren und langsameren Gegner, trifft diese so aus unerwarteten Winkeln. Auch defensiv kommt dem Weltmeister seine herausragende Beinarbeit zugute. Joshua ist nicht schlecht darin, einem Gegner den Ring „abzuschneiden“. Dennoch: Oft dauert der Bewegungsablauf vom Zeh in die Faust bei „AJ“ zu lange, vor allem defensiv ist der Hüne auf den Beinen bisweilen zu träge.

10:9 Usyk

Runde 8: Kondition

Usyk war im Cruisergewicht das Paradebeispiel eines „Volume“-Punchers, zwang dem Gegenüber seinen technisch brillanten Stil mittels hoher Schlagfrequenz auf. Im Schwergewicht kämpft der Ukrainer dosierter, ist aber nach wie vor derart fit, dass er problemlos 12 Runden Vollgas geben und „hinten raus“ sogar noch zulegen kann. So war es im Hinkampf der nach Punkten führende Usyk, der im Schlussdurchgang marschierte und Joshua ordentlich anklingelte. Der Engländer hat in den letzten Jahren zwar etwas (unnötige) Muskelmasse abgelegt, muss mit seinen Kräften aber nach wie vor genau haushalten, um nicht (wie etwa im ersten Kampf gegen Ruiz) zu überpacen. Ein Top-Mann wie Usyk, der Joshua ein hohes Tempo aufzwingt, schmeckt dem Ex-Champ nicht.

10:9 Usyk

Runde 9: Geschwindigkeit

In puncto Handspeed wie „Footspeed“ liegen die Vorteile naturgemäß beim kleineren, leichteren Mann. Usyk hat es geschafft, einen Großteil seiner Geschwindigkeit aus dem Cruisergewicht in die Königsklasse „mitzunehmen“. Joshua schlägt zwar ebenfalls schnelle Hände. Aber schnell ist eben relativ. Im Vergleich zu Usyk ist der 1,98-Meter-Hüne der langsamere Boxer.

10:9 Usyk

Runde 10: Psyche

Mindestens genauso wichtig wie die Faust ist der Geist. Ein Kampf beginnt oft schon im Vorfeld, wenn Boxer mittels psychologischer Kriegsführung versuchen, „unter die Haut“ des Gegners zu kommen. Joshua hat damit längst begonnen, indem er nur einen Monat nach seiner Niederlage ankündigte, im Rückkampf in den „Krieg“ zu ziehen und Usyk dessen „Seele zu rauben“. Den Ukrainer lässt derlei Zinober freilich kalt. Usyk ist psychisch außerordentlich gefestigt, ein Mann mit vielen Facetten und Interessen, der das Boxen nie zu hoch hängt. Joshua wirkte in der Vergangenheit mental ein ums andere Mal angegriffen, hat allerdings im Klitschko-Epos oder dem Ruiz-Rematch bewiesen, dass er immensem Druck standhalten kann.

10:10 Unentschieden

Runde 11: Kinn

Nehmen ist im Schwergewicht oft genauso selig wie geben. Nur wer auch einstecken kann, schafft es in der Regel ganz nach oben. Kritiker (respektive Spötter), die Joshua ein „Glaskinn“ attestieren, sollten dessen Kämpfe gegen Whyte und Klitschko nochmals anschauen: Ein Mann mit Glaskinn bleibt weder nach einem linken Whyte-Haken auf den Beinen, noch steht er nach einem rechten Volltreffer Klitschkos wieder auf. Allerdings geriet Joshua zuletzt relativ schnell ins Wanken. Im ersten Ruiz-Kampf leitete der erste harte Treffer des Mexikaners das AJ-Debakel ein. Auch gegen Usyk wackelte der Brite in den Runden 3 und 12 bedenklich. Für Usyk spricht, dass er als Profi noch nie am Boden war und bislang alle Hände, die ihn trafen – auch die von ausgewiesenen Punchern wie Murat Gassiev, Chisora oder Joshua –, unbeeindruckt wegsteckte. Wie Usyk reagiert, wenn er dann doch einmal unerwartet voll erwischt werden sollte, ist eine Unbekannte.

10:10 Unentschieden

Runde 12: Ring-Dominanz

Wer beherrscht die Ringmitte? Wer trifft, ohne getroffen zu werden? Wer gibt das Tempo vor und kontrolliert die Distanz? Kurzum: Wer hat, was die Amerikaner „Ring Generalship“ nennen? Bei Usyk vs. Joshua lautete die Antwort im ersten Duell ziemlich klar „Usyk“. Der Ukrainer ist ein Meister des Distanzgefühls, dank seines Amateur-Hintergrunds fließen die Aktionen des Weltmeisters wie selbstverständlich. So kann Usyk seinen Stiefel auch gegen Top-Leute runterboxen. Joshua hingegen trat bislang nur gegen unterlegene Gegner wirklich dominant auf.

10:9 Usyk

Oleksandr Usyk vs. Anthony Joshua - das Ergebnis nach Punkten

118:113 für Oleksandr Usyk steht nach 12 Runden auf der RTL-Scorecard. Usyk ist Joshua in fast allen Bereichen überlegen. Der Herausforderer muss sein Heil im Angriff suchen und mit seinem neuen Cheftrainer Angel Fernandez einen „Game Plan“ erarbeiten, der seine Vorteile in puncto Physis und Power konsequent entfaltet. „Groß“ boxen, den kleineren Usyk früh beeindrucken, unter Druck setzen und mit jedem Schlag, jedem Clinch „erdrücken“. Ob ihm das gelingt, ist fraglich, denn eigentlich hätte Joshua all das schon in London tun müssen. Das „AJ“-Dilemma: Sucht er allzu offen den K.o., läuft er Gefahr, vom ukrainischen Box-Künstler gnadenlos abgekontert zu werden. Schafft es Usyk, die ersten Runden ohne Volltreffer zu überstehen und einer Keilerei zu entgehen. Schafft er es, auch das Rematch zu einem „Boxkampf“ zu machen, sollte auf den Punktzetteln der Offiziellen abermals ein Punktsieg stehen. Kommt Usyk früh so gut durch wie im Schlussdurchgang des ersten Kampfes, könnte es bei Joshua am Roten Meer in den hinteren Runden dunkel werden.

Der Text erschien in leicht abgewandelter Form ursprünglich in der Juni-Ausgabe des Fachmagazins BOXSPORT.