Koblenz: Hetzjagd auf Erzieher nach vermeintlichem Kindesmissbrauch
"Es ist Wahnsinn, wie schnell in Deutschland Existenzen zerstört werden können"
Von Lena Wollny und Timo Steinhaus
Im Herbst 2020 kursiert in den sozialen Medien ein Video. Darin wirft eine Mutter einem Erzieher vor, ihre Tochter in einer Kita in Koblenz missbraucht zu haben. Schnell stellen sich die Vorwürfe als haltlos heraus. Doch im Internet geht der Hass jetzt erst richtig los – und treibt den Erzieher fast in den Selbstmord. Der Fall zeigt, wie schnell in Deutschland ein Leben zerstört werden kann.
Erzieher erfuhr erst später von Ermittlungen gegen ihn
Als Martin (Name von der Redaktion geändert) im September 2020 die Oma eines Kindes aus seiner alten Kita-Gruppe trifft, weiß er noch nicht, dass dies der Auftakt von dem ist, was sein Leben aus den Fugen reißen wird. Seit ein paar Wochen hat der Erzieher aus Koblenz einen neuen Arbeitgeber. „Sei froh, dass du aus deiner alten Kita weg bist“, sagt die Frau zu ihm. „Irgendwas stimmt da nicht. Da soll ein Kind missbraucht worden sein.“ Martin denkt sich nichts dabei. Solche Dinge laufen oft in Kitas, erzählt er. Es könne bereits eine Hysterie entstehen, wenn zwei Kinder sich in ihrem Spiel auf der Toilette nackt ausziehen, um zu schauen, wie der Gegenüber aussieht. Doch dieses Mal ist etwas anders.
Die Kollegen aus seiner alten Kita melden sich bei ihm. Es gebe Missbrauchsvorwürfe, sie mussten bereits bei der Polizei aussagen. Am 22. September klingelt auch sein Telefon und die Polizisten bitten ihn, eine Aussage zu machen. Es sei eine normale Vernehmung über die Abläufe gewesen, erinnert sich Martin. Erst hinterher stellt sich heraus: Es ist er selbst, den die muslimischen Eltern des Mädchens beschuldigen. Seitdem ist er krankgeschrieben. Erst wegen einer akuten Belastungsreaktion, dann folgt eine schwere Depression.
Hat Mädchen in Koblenzer Kita Geschichte nacherzählt?
Am 10. September erzählt das Mädchen seinen Eltern, es sei von Frauen missbraucht worden, erinnert sich Martin. Das Mädchen habe behauptet, es sei von einer nackten Erzieherin mit schwarzen Haaren gebadet worden, habe ein weißes Kleidchen angezogen und eine Krone auf den Kopf gesetzt bekommen. Die Vorwürfe hätten schnell entkräftet werden können. „Auf einmal war von noch einen Mann die Rede, der nicht beschrieben werden konnte. Dann waren es auf einmal drei Männer. Es wurde immer mehr dazugedichtet von den Eltern“, sagt der 44-Jährige. Das Kind habe erzählt, es sei in einen dunklen Raum geführt und dort missbraucht worden. Noch am selben Tag untersucht eine Rechtsmedizinerin die Vierjährige. „Alle medizinischen Untersuchungen haben keinerlei Hinweise auf eine Vergewaltigung oder eine sexuelle Misshandlung des Mädchens ergeben“, teilt die Polizei Koblenz mit.
Die Befragungen des Personals ergeben, dass am Morgen des betreffenden Tages ein Pastoralreferent in der Kita gewesen ist. Er zeigte den Kindern ein religiöses Bildergeschichtstheater und erzählte, wie Mose als Säugling in einem Korb auf dem Nil ausgesetzt wurde. Auf den Bildern ist eine Frau mit schwarzen Haaren zu sehen, die Mose wäscht und wickelt, ihm ein weißes Kleid anzieht und ihm eine Krone aufsetzt. „Das Kind hat das nacherzählt, was bei den Eltern wohl ausgelöst hat, dass was nicht stimmt und dass was mit dem Kind passiert sein musste“, sagt Martin.
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Kindesmissbrauchs-Vorwürfe: "Es bleibt immer etwas hängen"
Es dauert nicht lange, dann spricht sich der Fall herum. In den sozialen Medien kursieren die ersten Posts. Schnell ist Martin als einziger männlicher Erzieher als Verdächtiger ausgemacht – doch am Tag der mutmaßlichen Vergewaltigung arbeitet Martin bereits seit Wochen bei einer anderen Koblenzer Kita. Er trainierte nach seinem Dienst in einem Fitnessstudio, die Mitarbeiter bezeugen dies. Die GPS-Daten seines Handys belegen, dass er nicht in seiner alten Kita gewesen ist. Er selbst habe das Mädchen und dessen Eltern gar nicht gekannt, weil es in einer anderen Gruppe gewesen sei, sagt Martin.
Doch er weiß: Egal, ob jemand unschuldig ist oder nicht - es bleibt immer etwas hängen. Was ist, wenn Eltern in ein paar Jahren von den Gerüchten hören und nicht mitbekommen haben, wie alles aufgeklärt wurde? „Das ist jetzt ein Karriereknick, der brandgefährlich ist. Und wenn das in die falsche Richtung läuft, bist du deinen Job los“, denkt Martin und bietet der Polizei an, einen DNA-Abgleich durchzuführen. Zwei Tage später steht fest: Die am Mädchen gefundenen DNA-Spuren gehören zum Vater und stammen aus dem normalen familiären Umgang. Die Polizei führt eine Begehung des Kindergartens durch und stellt fest, dass es den Raum, in dem der Missbrauch stattgefunden haben soll, nicht gibt. Nach gut fünf Wochen werden die Ermittlungen eingestellt. Martin denkt, es ist vorbei. „Bald bist du rehabilitiert und kannst wieder arbeiten gehen“, sagt er sich.
Nach Video bricht internationaler Shitstorm über Erzieher und Kita herein
Doch dann klingelt am 19. Oktober sein Telefon und eine Mitarbeiterin der Kripo ist dran. Sie erzählt Martin, dass im Internet Videos der Eltern des Mädchens aufgetaucht sind. Die Mutter berichtet darin in arabischer Sprache von einer Vergewaltigung ihrer Tochter, gefilmten Gruppensex durch mehrere Männer und Schlägen für die Kinder. Der Vater wirft den Behörden in einem anderen Video vor, schlampig ermittelt zu haben. Beide Videos sind mit deutschen Untertiteln versehen. Die Resonanz ist riesig. Über die Erzieher und Martins alte Kita bricht ein internationaler Shitstorm herein. „Es gibt Aufrufe, Sie zu ermorden“, habe die Frau von der Kripo gesagt. „Verschwinden Sie.“
Eine Woche vorher wurde in Frankreich ein Lehrer auf der Straße enthauptet, weil er seiner Klasse Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte. Martin bekommt Panik. „Die kriegen mich nicht“, denkt er. Er taucht anderthalb Wochen ab. In der Zeit eskaliert die Lage. Martins Adresse und ein Foto von ihm werden im Internet veröffentlicht. Es gibt Aufrufe, ihn öffentlich zu kastrieren. „Es ging sogar so weit, dass der Staatsschutz ermittelte, weil auch die Drohung ausgesprochen wurde, die Kita samt Personal und meine Wohnung in die Luft zu sprengen“, sagt er. Die Kita muss für zwei Wochen schließen, Eltern müssen ihre Kinder unter Polizeischutz abholen. Zivilpolizisten überwachen Martins Wohnung und die Häuser seiner Kollegen. Zwei Tage nach der Veröffentlichung der Videos reagiert die Koblenzer Polizei mit einem eigenen Film auf Twitter und wehrt sich gegen den Vorwurf, nicht richtig ermittelt zu haben.
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An der Haustür des Erziehers hat jemand "Kinderficker" geschmiert
Als er zurückkommt, hat jemand an seine Haustür mit Kreide „Kinderficker“ geschmiert. Eier fliegen gegen seine Hauswand. Müll wird in seinem Garten abgeladen. Wenn Martin das Fenster öffnet, rufen ihm Menschen Beleidigungen entgegen. Aus der Panik heraus hegt Martin Selbstmordgedanken. Er verfasst sein Testament, plant seine Beerdigung auf dem Wiener Zentralfriedhof und entwirft eine Traueranzeige. Drei weitere Eltern von Kindern aus anderen Gruppen zeigen ihn wegen sexuellen Missbrauchs an. „Zum Beispiel soll ich mit einem Wohnmobil Kinder eingesammelt und mit ihnen Pornos gedreht haben“, beschreibt Martin die Anschuldigungen. Die Ermittlungen laufen noch. Martin entschließt sich, selbst in die Offensive zu gehen und gibt einem lokalen Radiosender ein mehrstündiges Interview. „Danach habe ich sehr viel Zuspruch bekommen“, sagt er. Es habe auch seine Einstellung gestärkt. „Das ist deine Heimat, du hast dir nichts zuschulden kommen lassen – warum sollst du weg?“, sagt der Erzieher. Dennoch bekommt er bis in den März hinein Briefe mit Beleidigungen und Drohungen.
Die Staatsanwaltschaft leitet wegen der Anfeindungen 137 Ermittlungsverfahren ein und verhängt einige Geldstrafen. „In 30 Verfahren haben wir einen Antrag auf Erlass eines Strafbefehls gestellt, 10 Verfahren davon sind rechtskräftig abgeschlossen. Es wurden überwiegend Geldstrafen bis zu 100 Tagessätzen verhängt/beantragt“, heißt es. Martin ist enttäuscht von den Behörden. Die Ermittlungen gegen die Menschen, die ihn bedroht haben, sind eingestellt worden. „Wenn ich die Begründungen lese, liest man zwischen den Zeilen heraus: Das war uns zu viel Arbeit herauszufinden, wer das war.“
Kripo übermittelt vorhandene Mordaufrufe per Telefon
Noch ärgerlicher sei aber die Reaktion der Polizei gewesen. „Ich hätte erwartet, dass die Polizei ihre Zusage einhält, dass die Staatsanwaltschaft nach meiner DNA-Probe eine Stellungnahme veröffentlicht, dass an den Anschuldigungen nichts dran ist“, sagt er. Vom Opferschutz hätte er sich eine andere Beratung gewünscht als „Ziehen Sie weg, ändern Sie ihren Namen.“
„Es ist Wahnsinn, wie schnell in Deutschland Existenzen zerstört werden können“, sagt Martin. „An jedem Punkt sexueller Nötigung oder sexueller Belästigung muss ein vermeintlicher Täter beweisen, dass er nichts getan hat. Das kann er nicht. Das System ist darauf aus, diejenigen, die Lügen in die Welt setzen, nicht zu bestrafen. Es ist ganz einfach, Menschen ihr Leben wegzunehmen“, sagt er. „Die Behörden waren komplett überfordert. Dafür habe ich Verständnis. Aber bitte nicht auf meinem Rücken. Nachher auch nicht zuzugeben, dass Fehler da waren und sich nur als fehlerfrei darstellen, das finde ich ein Unding.“
So ist für den Erzieher unverständlich, dass die Kripo ihm lediglich per Telefonanruf mitteilte, dass im Internet sein Name und seine Adresse veröffentlicht wurden und dazu aufgerufen wird, ihn zu ermorden. „Da hätte ein Seelsorger oder ein Psychologe anwesend sein müssen“, sagt er. Die Trauma-Therapeutin Katharina Körner betreut Menschen wie Martin und teilt diese Einschätzung: „Das Leben ist bedroht, es ist ihm die Existenz genommen worden, da ist eine Hetzjagd passiert, Bindungen gehen verloren, das hat ganz massive Auswirkungen auf die Psyche. So etwas kann man nicht ohne psychologische Unterstützung verkraften“, sagt sie.
Vergewaltigung erfunden, um Abschiebung zu verhindern?
Mittlerweile war Martin zur Trauma-Behandlung in einer Tagesklinik. Er hat eine neue Beziehung gefunden und neuen Mut gefasst. In drei Jahren hofft er, eine ganz normale berufliche Tätigkeit ausüben zu können – vielleicht auch im Ausland. „Ich möchte, dass ich mit dem Menschen, den ich liebe, wieder ein ganz normales soziales Leben habe. Ich möchte ein Leben haben – meins bekomme ich nicht zurück. Aber zumindest ein normales Leben.“
Von der Polizei habe Martin erfahren, dass den Eltern des Mädchens die Abschiebung bevorgestanden habe. „Sie waren ausreisepflichtig und haben einen Tipp bekommen: Wenn ihnen in Deutschland eine Straftat widerfährt, können sie nicht ausgewiesen werden, bis das aufgearbeitet ist. Man bekommt entsprechende Therapien und so lange die laufen, gibt es keine Ausreise. Das war mutmaßlich der Hintergedanke, diese Tat zu erfinden“, erzählt er.
Gegen die Eltern des Mädchens sind laut Staatsanwaltschaft keine Ermittlungsverfahren wegen Vortäuschens einer Straftat eingeleitet worden. Martin kann deshalb juristisch gegen die Missbrauchsanschuldigungen nichts unternehmen und auch keine Opferentschädigung bekommen. „Es muss derzeit davon ausgegangen werden, dass die Eltern davon überzeugt sind, dass es zu einem Missbrauch ihres Kindes gekommen ist“, erläutert der Generalstaatsanwalt. „Die Eltern haben Koblenz verlassen. Ihr Aufenthaltsort ist unbekannt.“