Lebenslange Suche findet bittersüßes Ende
Im KZ getrennt! Großfamilie findet sich durch DNA-Test wieder

Ein Leben lang sucht Dora Rapaport ihr Töchterchen Eva. Im Zweiten Weltkrieg wird ihr das Baby entrissen, im Konzentrationslager von Auschwitz. Dora überlebt den Holocaust wie durch ein Wunder, wandert mit ihrem neuen Mann in die USA aus. Im Frühjahr 2020 kommt durch moderne DNA-Technologie heraus: Evas Familie lebt in Großbritannien. Die beiden Töchter, die Dora in den USA zur Welt brachte, können es erst nicht fassen. Sie lernen ihre Nichte Clare kennen - wegen Corona nur in Videocalls. Mitte November findet endlich das lang ersehnte persönliche Treffen statt. Das berichtet die Washington Post.
Hat Baby Eva den Holocaust überlebt?
Die beiden Schwestern Dena Morris (73) und Jean Gearhart (74) kennen die grausame Familiengeschichte, die beiden wissen seit ihrer Kindheit, dass sie eine verschollene ältere Schwester namens Eva haben. Aber keiner weiß, ob sie überhaupt noch lebt. Während des 2. Weltkriegs kommt ihre Mutter Dora in verschiedene Konzentrationslager, muss dort mit ansehen, wie ihre Familie in der Gaskammer ermordet wird. Denas und Jeans Schwester Eva wird in Auschwitz als Baby aus den Armen ihrer Mutter Dora gerissen. Dora selbst wird verschont. Nach der Befreiung im Jahr 1945 zieht sie nach Österreich. Sie weiß nicht, ob Baby Eva noch lebt und wo sie sein könnte. In Österreich lernt sie einen neuen Mann kennen, ebenfalls ein Holocaust-Überlebender. Sie heiraten, siedeln mit ihren beiden Töchtern Dena und Jean 1949 in die USA über.
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Dora bleibt von Tochter Eva nur das eine Foto
„Sie hat ihr ganzes Leben damit verbracht, nach diesem Kind zu suchen“, erzählt Dena der Washington Post. „Das hat sie seelisch sehr mitgenommen.“ Dora unternimmt etliche Reisen nach Deutschland, sucht Eva dort in Waisenhäusern. Doch ihre hartnäckige Suche bringt nichts ans Licht. Von ihrer Eva bleibt ihr nur das eine Foto. Manchmal wiegt sie das Bild fest in ihren Armen, wie ein Baby. Ihre Töchter Dena und Jean schwören vor dem Tod ihrer Mutter im Jahr 1998: Wir werden weiter nach Eva suchen! „Unser ganzes Leben lang waren wir neugierig. Wir wollten wissen, wo Eva war, wer Eva war“, erzählt Jean der Washington Post. „Wir wussten nicht, wo wir überhaupt anfangen sollten.“ Sie durchforsten Sterbebücher und Online-Datenbanken, wenden sich an das Rote Kreuz. Ohne Erfolg.

Genealogie-Plattform findet DNA-Übereinstimmung
Im Frühjahr 2020 ändert sich plötzlich alles. Dena und Jean machen einen DNA-Test, erhalten im April eine E-Mail von der israelischen Genealogie-Plattform MyHeritage. Dort haben Mitarbeiter eine genetische Übereinstimmung mit einer Frau in Großbritannien entdeckt - wahrscheinlich die Nichte der beiden. Auf der anderen Seite des Ozeans erhält Clare Reay (53) eine solche E-Mail. Aber Clare ist skeptisch: "Es war immer so, dass meine Mutter keine Familie hatte", sagt sie. Denn ihre Mutter, Evelyn Reay, wusste so gut wie nichts über ihre Kindheit oder ihre Wurzeln. Nur ein verwittertes Dokument besaß sie und in dem stand, dass ihr Geburtsname Chava - das ist die hebräische Entsprechung von Eva - war. Und dass sie 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen geboren wurde.

Mutter Eva stirbt 2014 an Krebs
Auch ihr genaues Geburtsdatum hat Evelyn Reay nie gekannt. Im geschätzten Alter von etwa sieben Jahren wird sie aus einem Waisenhaus in Israel von einem jüdischen Paar aus Großbritannien adoptiert. Sie glaubt, dass ihre leibliche Familie wahrscheinlich im Holocaust umgekommen ist. Trotz aller Zweifel, ob sie überhaupt noch lebt, "versuchte sie, so viele Informationen wie möglich herauszufinden, aber es gab immer eine verschlossene Tür", erzählt Reay. 2014 stirbt die so lange schmerzlich vermisste Eva an Bauchspeicheldrüsenkrebs - ohne je erfahren zu haben, dass ihre Mutter den Holocaust überlebt hat und sie zwei weitere Schwestern hat.
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„Es gibt so viele Ähnlichkeiten, es ist erstaunlich“
Clare misstraut weiterhin der gemeldeten DNA-Übereinstimmung – ihre Tanten ebenso. Doch die Zweifel verflüchtigten sich schlagartig, als sie Fotos austauschen: Die Ähnlichkeiten zwischen ihrer Mutter Dora und Tochter Eva sind einfach zu überwältigend. „Alles an ihnen war fast identisch“, erzählt Dena der Washington Post. „Es war atemberaubend.“ Als die drei Frauen sich am Telefon unterhalten, wird ihnen klar: Die verstorbene Mutter und ihre Tochter haben mehr gemeinsam als nur das Äußere. „Es gibt so viele Ähnlichkeiten, es ist erstaunlich“, sagt Jean. Doras Töchter beschreiben ihre Mutter als lustig und glamourös, mit einer charismatischen Persönlichkeit und einer Vorliebe für Glitzer und Tanz.

Falscher Geburtsort wegen Adoption?
Ein reger Austausch kommt zustande – wegen Corona aber immer nur über Video-Anrufe. Doch so lernen sie sich und ihre Familien schnell kennen, darunter auch Clares drei Geschwister und deren Kinder sowie Dena und Jeans jüngerer Bruder und die vier gemeinsamen Kinder. So erfährt Clare endlich, wie es ihrer Großmutter mütterlicherseits ergangen ist. „Es gibt einige Ungereimtheiten bei den Daten und einigen anderen Dingen“, erklärt Dena, allen sei rätselhaft, warum in dem Dokument steht, dass Evelyn Reay 1945 in Bergen-Belsen geboren wurde. Aber das Foto von Dora und Eva stammt ganz klar aus den Tagen vor der Internierung? Sie nehmen an, dass diese Information gefälscht wurde, um eine Adoption zu erleichtern. Aber Details spielen jetzt keine große Rolle mehr. „Es gibt noch so viele unbeantwortete Fragen, aber wir sind schon viel weiter, als wir je gedacht hätten“, schwärmt Clare.
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„Eva hätte hier sein sollen“, sagt Tochter Clare in Tränen aufgelöst
Und obwohl es wegen der Corona-Pandemie schwierig und unsicher ist, eine Reise über die Kontinente zu planen, reist sie am 13. November mit ihrem Mann nach Ohio, um ihre Tanten zu überraschen. „Sie waren völlig verblüfft und das ist es, was ich wollte“, erzählt Clare der Post. „Ich glaube, sie waren wirklich begeistert.“ Ihre Tanten persönlich zu treffen bezeichnet sie als den Höhepunkt ihres Lebens. „Eva hätte hier sein sollen, es ist unglaublich bittersüß“, sagt Reay bei dem Treffen in Tränen aufgelöst. „Es war das Erstaunlichste, was mir je passiert ist“, sagt auch Dena. „Von dem Moment an, als sie zur Tür hereinkam und wir sie umarmten, war es, als gehöre sie dazu.“ Sie plant jetzt, mit ihrer Schwester nach Großbritannien zu reisen, um den Rest der Großfamilie kennenzulernen.
MyHeritage-Forscherin: „Das ist der Grund, warum wir tun, was wir tun“
Die Kinder von Dena und Jean haben dabei geholfen, diese Überraschung zu koordinieren. Auch Mitarbeiter von MyHeritage spielen bei der Organisation des Treffens eine wichtige Rolle. „Der Holocaust ist für viele immer noch ein schwarzes Loch, wenn es um die Erforschung ihrer Familiengeschichte geht“, sagt Nitay Elboym, eine Forscherin bei MyHeritage, die an der Aufklärung des Falls beteiligt war. „Geschichten wie diese sind der Grund, warum wir tun, was wir tun.“ (ija)