Trauriger Jahrestag im Libanon
Explosion im Hafen von Beirut: „Warum ist meine Schwester tot?“

von Simon Riesche, Beirut
Vor einem Jahr sterben bei der Explosionskatastrophe im Hafen von Beirut mindestens 193 Menschen. Auch eine zehnköpfige Feuerwehreinheit kommt ums Leben. Ihre verzweifelten Familien fordern endlich Gerechtigkeit.
Marias Schwester Sahar starb bei der Explosion

„Normalerweise schlafe ich nachmittags nie“, sagt Maria Fares und die Tränen schießen ihr in die Augen. Wenn sie über den 4. August des letzten Jahres spricht, wird ihre Stimme zittrig.
Sie habe sich kraftlos gefühlt an jenem Tag, erinnert sich die junge Frau, „irgendwie gespürt, dass etwas nicht stimmt“. Nicht einmal der gewaltige Knall in nur ein paar Kilometern Entfernung habe sie damals aufgeweckt. Es ist der Moment, als Marias Schwester Sahar ihr Leben verliert.
Die damals 27 Jahre alte Sanitäterin gehörte zu einer zehnköpfigen Feuerwehreinheit, die kurz vor der Explosion im Hafen von Beirut ein Feuer zu löschen versuchte. Heute ist sie im Libanon eine Art Ikone, ihr Gesicht kennt fast jeder im Land. Sahar hatte in diesem Jahr heiraten wollen, dann musste ihre Familie sie beerdigen. Die Bilder ihrer Trauerfeier gingen um die Welt.
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Maria fragt sich immer noch: Wer ist wirklich verantwortlich?

„Jeden Tag frage ich mich, ob es wirklich schon zwölf Monate her ist, dass Sahar von uns gegangen ist“, sagt ihre Schwester Maria leise.
Nach offiziellen Angaben starben am 4. August 2020, als mitten in der libanesischen Hauptstadt große Mengen der hochexplosiven Chemikalie Ammoniumnitrat explodiert sein sollen, 193 Menschen. Opfervertreter sprechen sogar von 218 Toten.
„Warum mussten Sahar und all die anderen Menschen sterben“, fragt Maria. „Wer ist wirklich verantwortlich?“ Gemeinsam mit den Familien der anderen Opfer der Feuerwehreinheit gibt sie in diesen Tagen ein Interview nach dem anderen. Auch wenn ihr das sichtlich schwer fällt.
Warum lagerte das Ammoniumnitrat jahrelang im Hafen? Wie entzündete es sich? Wer hätte die Katastrophe verhindern können? Es sind diese Fragen, die auch George Hati beschäftigen, der bei der Katastrophe seinen Sohn Charbel verlor.
„Wir fordern endlich Aufklärung. Hier auf Erden würde mir schon ein Prozent der Wahrheit reichen. Im Himmel besorgt Gott dann den Rest.“
Ermittlungen haben bisher keine stichhaltigen Ergebnisse gebracht
Die Ermittlungen der libanesischen Regierung haben bisher keinerlei stichhaltigen Ergebnisse hervorgebracht. Politische Grabenkämpfe blockieren die Aufklärung. Auch wirtschaftlich liegt das kleine Land am Boden. Das Ausland hält sich mit Unterstützung zurück, weil Hilfsgelder oftmals vor allem bei den korrupten Eliten landen.
„Unsere einzige Hoffnung ist, dass die internationale Gemeinschaft uns zur Hilfe kommt und eine offizielle Untersuchung in die Wege leitet“, sagt George Hati. Maria Fares, die Schwester der toten Sahar, ergänzt: „Unsere Politiker haben nicht mal den Mut zu sagen, dass es ihnen leid tut.“
Zumindest dieser Wunsch könnte sich jetzt erfüllen: Die Vereinten Nationen (UN) mahnen die Aufklärung der Ursachen der gewaltigen Explosion an. Ein Jahr nach dem Unglück kämpften Opfer und Angehörige immer noch um Gerechtigkeit und Wahrheit, sagte eine UN-Sprecherin am Dienstag in Genf. Die libanesische Regierung müsse eine gründliche und unvoreingenommene Untersuchung sicherstellen sowie die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen, forderte die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet.