EM-Sorge um Müller – und nun?

Keine Panik, es gibt doch Goretzka!

Goretzka und Müller
Zwei Männer mit exklusiven Qualitäten für das DFB-Team.
deutsche presse agentur

Von Tobias Nordmann
Thomas Müller schleppt eine bizarre Serie mit sich herum: Bei Europameisterschaften hat der Offensivmann des DFB-Teams bislang noch keinen Treffer erzielt. Wichtigster Mann ist er trotzdem. Nun droht er auszufallen. Sorge ist okay, Panik unangebracht.

So könnte Löw Müller ersetzen

Für Goretzka kann "das Turnier jetzt richtig losgehen"

DFB-Pressesprecher Jens Grittner war sehr bemüht, den großen "EM-Schock" zu relativieren. Die "Bild"-Zeitung meldete am Mittag, dass Thomas Müller im Gruppenfinale gegen Ungarn ausfallen werde. Und das definitiv. Diese Information läge ihm jetzt nicht vor, sagte Grittner. Vielmehr würde man die Lage in Absprache mit der medizinischen Abteilung von Tag zu Tag bewerten. Die Situation ist also so: Müller kann dem DFB-Team fehlen, muss aber nicht.

Was nun? Was, wenn der schon wieder wichtigste Mann in der Mannschaft wirklich ausfällt? Tja, gute Frage. Und natürlich wird sie direkt diskutiert? Kevin Volland als Strafraumstürmer vorne rein? Oder doch lieber auf den schnellen Timo Werner setzen? Und was ist eigentlich mit Leon Goretzka? Dem "Power Tower" aus München, der dem Team mit seiner Dynamik und seiner Wucht eine ganz besondere Qualität geben kann. Eine Qualität, die es sonst nicht in diesem letzten Kader von Bundestrainer Joachim Löw gibt. Er sagt: "Ich fühle mich nun wieder topfit und das Turnier kann für mich jetzt richtig losgehen."

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Verdammt viele gute Argumente für Müller

Aus diesem Grund, wegen seiner einzigartigen Qualitäten, war auch Thomas Müller wieder in die Nationalmannschaft zurückgekehrt. Nach über zweieinhalb Jahren, nach zermürbenden und ewigen Diskussionen. Dass Müller damals gemeinsam mit den beiden Innenverteidigern Mats Hummels und Jérôme Boateng überraschend ausgebootet worden war, hatte tatsächlich auch gute Gründe. Das wird oft vergessen. Müller war im DFB-Team nicht in starker Verfassung und erst recht nicht beim FC Bayern, wo er unter Niko Kovac immer mehr fremdelte.

In einer erstaunlichen Auferstehungsgeschichte unter Hansi Flick hatte sich der 31-Jährige aber wieder in eine herausragende Form gebracht. Vielleicht war er in den vergangenen anderthalb Jahren so gut wie selten zuvor. Im Verein erzielte er Tore, bereitete in der Liga historisch viele vor. Gute Argumente für das DFB-Comeback. Noch bessere Argumente: Müller hat eine Führungs- und Kommunikationsstärke, die das Löw-Team lange vermisst hat.

Goretzka: Freue mich auf jedes Zeichen für Vielfalt

"So wie er sich gerade im Pool bewegt hat ..."

Und Müller hat einen mia-san-mia-unbändigen Ehrgeiz. Seine Besessenheit auf Erfolg bezahlt er nun womöglich mit seinem Ausfall gegen Ungarn. Kurz vor dem Abpfiff, als sich Portugal langsam mit der 2:4-Niederlage abgefunden hatte, schmiss Müller sich und seinen Körper ein letztes Mal in eine hohe Hereingabe. Ergebnis nun: Kapselverletzung im Knie. Hoffen ist nun also das Stichwort. "So wie er sich gerade im Pool bewegt hat, ist nicht ausgeschlossen, dass er spielt", bemühte Goretzka einen Mutmacher: "Ich hoffe für uns alle, dass er fit ist, weil er ein sehr wichtiger Spieler für uns ist."

Allerdings ist es auch so: Goretzka fühlt sich bereit für einen Einsatz. Bereit, im Mittelfeld Verantwortung zu übernehmen. Auf der Position von Müller, allerdings mit seiner eigenen Interpretation. Denn der 26-Jährige ist nicht Raumdeuter, nicht Schleichkatze, nicht "Radio Müller". Goretzka kommt über Kraft, über Tiefenläufe und einen wuchtigen Abschluss. Wie bei seinem Kurzeinsatz gegen Portugal zu sehen, als sein Schuss nach Solo die Latte noch streifte.

Er verfügt auch über einen sehr guten Kopfball. Keine schlechte Option für eine Mannschaft, dessen große Schwäche in diesem Turnier die Standardsituationen sind. Die eigenen, weil harmlos und gefährlich über gegnerische Konter. Die gegnerischen, weil sie häufig einfach schlecht verteidigt werden. Goretzka sagt: "Ich denke, dass wir einfach weiter dran glauben müssen. Überzeugung ist ein wichtiges Stichwort bei Standards. Die Anlagen sind da und ich bin mir sicher, dass wir noch unseren Profit daraus ziehen können."

Ungarn-Duell auch politisch brisant

Authentisch, selbstbewusst, meinungsstark.

Achja, dieser Goretzka, ein authentischer Typ, selbstbewusst, meinungsstark. Nicht nur, wenn es darum geht, dass er sich die Rolle als Müller-Ersatz zutraut. Passend war auch, dass er das DFB-Team an diesem Montag bei der Medienrunde vertrat. Denn es ging natürlich auch um ein Thema, bei dem es eine klare Haltung braucht. Und wohl keiner in der deutschen Mannschaft beantwortet Fragen zu gesellschaftlich kritischen und brisanten Themen so souverän wie der gebürtige Bochumer. Anders übrigens als der Verband selbst (siehe unten). Souverän sprach Goretzka nun zur UEFA-Posse um die Ermittlungen (Ergebnis: keine Sanktionen) gegen die DFB-Elf wegen der Regenbogenbinde von Manuel Neuer.

Es sei "völlig klar", wofür das Zeichen stehe. "Da gibt es keine Argumentationsgrundlage, die dagegen spricht. Wir werden genau so weiter handeln“, versprach Goretzka. Neuer trägt die Binde im "Pride Month", um für die Werte der DFB-Auswahl einzustehen und ein klares Zeichen gegen Diskriminierung und Hass zu setzen. Die UEFA schreibt das Tragen einer anderen Kapitänsbinde vor, wertete das Stück Stoff von Neuer aber nach einer Überprüfung aber als "good cause" und verzichtete auf eine Strafe. Gegen Ungarn wird Neuer sie übrigens wieder überstreifen.

"Es wäre absurd, wenn wir uns dafür entschuldigen müssten. Sanktionen wären absurd", sagte Goretzka. Er sagte auch: "Wir wollen Rassismus und Homophobie mit Vielfalt gegenübertreten. Manche Mannschaften machen das mit dem Kniefall, bei uns hat Manu (Neuer) die Regenbogen-Binde getragen. Die Allianz Arena soll nun auch in diesen Farben leuchten, das finde ich sehr gut. Ich bin für jedes Zeichen und wir haben auch schon unsere Zeichen gesetzt." Ob es in München tatsächlich das Zeichen gibt? Offen, die UEFA hat sich noch nicht positioniert.

Der DFB baute über Grittner übrigens bereits vor, dass es ja auch andere Tage für eine solche Aktion gebe würde. Stimmt, aber der Mittwoch wäre eben der stärkste Tag. Weil es gegen Ungarn geht. Gegen das Land, dessen Parlament gerade erst ein Gesetz gebilligt hat, das die Informationsrechte von Jugendlichen in Hinblick auf Homosexualität und Transsexualität einschränkt. Das Gesetz gilt als besonderes Anliegen von Ministerpräsident Victor Orbán.