Viele kommen nach Deutschland zurück

Sind die Kinder des IS harmlos oder unberechenbare Killer?

Unbekannter Junge während der Ausbildung beim IS
Ein unbekannter Junge während der Ausbildung beim IS.
Site Intel

Von Michael Ortmann

Der Junge hat eine geladene Waffe in der Hand. Vielleicht ist er acht, vielleicht zwölf Jahre alt. Er trägt eine grüne Tarnuniform und eine schwarze Mütze, sein Gesicht wirkt ernst. In dem dunklen Raum befinden sich, etwas im Hintergrund stehend, noch weitere Kinder. Vor dem Jungen kniet ein 30- bis 40-jähriger Mann. Sein Kopf ist leicht gesenkt, die Augen sind verbunden. Er trägt einen orangefarbenen Pullover. Und obwohl der Tod nur noch Sekunden entfernt ist, verharrt er in völliger Bewegungslosigkeit. Er bettelt nicht um sein Leben, er versucht nicht, zu fliehen, weint nicht vor Verzweiflung. Er scheint in sich versunken, entrückt.

IS nutzt Hinrichtungsszene für Propaganda

Dann wird dem Mann die Augenbinde abgenommen, der Junge lädt seine Waffe durch, richtet sie von oben gegen den Kopf des Mannes und drückt ab. Sein Körper sackt schnell vorn über, Blut fließt, alles in Nahaufnahme. Der Junge verlässt dann mit den anderen den Raum, untermalt wird ihr Abgang von einem Nashid, dem religiösen A-cappella-Gesang.

Diese kaum zu ertragende Hinrichtungsszene ist eine Sequenz aus einem Propagandavideo des sogenannten Islamischen Staates (IS). Inszeniert wurde sie vermutlich zur Hochzeit des IS, irgendwann zwischen 2014 und 2017. Ob es tatsächlich eine echte Hinrichtung war, lässt sich nicht mehr endgültig klären. Die Bilder jedoch lassen nur wenig Zweifel aufkommen.

Was geschieht jetzt mit den Kindern des IS?

Samira Benz
Rückkehrkoordinatorin Samira Benz.
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Ende letzten Jahres landete die bisher größte Gruppe von Rückkehrern in Deutschland. Acht Frauen und 23 Kinder. Sie alle waren beim IS. Die Mütter freiwillig, der Nachwuchs zwangsläufig. Doch wie gefährlich sind die Kinder des IS? Müssen wir uns fürchten? Was geschieht jetzt mit ihnen? Fragen, mit denen sich unter anderen die Rückkehrkoordinatorin Samira Benz in Berlin beschäftigt. Schon im Vorfeld hat sie die oft spärlichen Informationen zusammengetragen und die Behörden und Institutionen, die eine große Rolle spielen, an einem Tisch versammelt: Jugend - und Gesundheitsämter, die Sicherheitsbehörden, das Auswärtige Amt, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Kitas und Schulen.

"Bei den Kindern schauen wir zunächst einmal, wie der Gesundheitszustand ist. Wir haben Kinder, die Bombensplitter in ihren Köpfen haben oder schnell medizinisch versorgt werden müssen. Und das auch teilweise schon am Flughafen. Aber manchmal wissen wir auch fast gar nichts über die Kinder und müssen dann vor Ort schnell handeln", erzählt Samira Benz im RTL-Interview.

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Einige sind dem IS verfallen

Gesundheitliche Probleme sind bei den Müttern schneller zu diagnostizieren. Ideologisch hingegen wird es schwieriger. Es gibt die vom IS desillusionierten, die wollen so schnell wie möglich zurück in die Gesellschaft. Aber es gibt auch die anderen, die noch immer – mal offen, mal insgeheim – dem IS verfallen sind. Und dann sind da die Unentschlossenen, die antriebs- und perspektivlos wieder in Deutschland ankommen.

"Bei den Frauen erleben wir oft eine totale Unsicherheit und Hilflosigkeit. Sie haben keine Vorstellung, was jetzt passiert. Kommen sie in Untersuchungshaft, werden sie festgenommen, in welches Bundesland kommen sie, wie werden die nächsten Schritte sein, werden sie überhaupt wieder Anschluss an diese Gesellschaft finden?", sagt Thomas Mücke vom „Violence Prevention Network“ (VPN) zu RTL. Er hat eine jahrelange Expertise in der Resozialisierung von Extremisten.

Kinder kommen in ein Land, das sie nicht kennen

IS-Propagandavideo
Ein Szene aus einem Propagandavideo des IS.
Site Intel

Die Kinder sind die verlorenen Seelen. Sie kommen in ein Land, das ihre Eltern gehasst haben, ein Land, das sie kaum oder gar nicht kennen. Ihre Väter sind entweder gestorben oder in Haft. Und was mit ihren Müttern geschieht, ist unklar. Zudem sind viele in ihrer Entwicklung verlangsamt. Sie sind die wahren Opfer des Krieges. "Bei den Kindern, die zurückkommen, beobachten wir zum Beispiel Depressionen und Schlaflosigkeit. Viele haben Albträume oder Bettnässen. Andere Kinder haben Zwänge. Ein Kind dreht zum Beispiel den Wasserhahn immer auf und zu", erklärt Samira Benz. Und noch etwas bereitet ihr Sorgen: "Bei einigen Kindern ist auffällig, dass sie Angst vor männlichen Personen haben, Männern mit dunklen Haaren und Bärten."

Die Kinder des IS, die nicht medizinisch stationär versorgt werden müssen, können dann bei der Mutter bleiben. Sollte sie aber in Untersuchungshaft müssen, dann sucht die Rückkehrkoordinationsstelle im Umfeld der Kids eine Bleibe. Dort wird zunächst geprüft, ob Oma, Opa, Onkel oder Tante in der Lage und willens sind, die neue Situation zu meistern. "Das Jugendamt überprüft die häuslichen Gegebenheiten, ob die Wohnung genügend Zimmer hat, ob sie kinderfreundlich ist, ob der Großvater oder Großmutter ein bestimmtes Alter haben, wo sie Kinder noch aufnehmen können", skizziert Samira Benz die Anforderungen.

Kitas und Schulen sorgen sich um ihre heile Welt

Thomas Mücke hat viele Radikalisierte auf ihrem Weg zurück in die Normalität begleitet. Und er weiß, dass die Kinder in der Regel keine umfangreichen Deradikalisierungsprogramme benötigen. "Es spielt eine sehr große Rolle, dass Kinder dann hier in einem Umfeld sind, wo ihre Grundbedürfnisse wieder befriedigt werden. Dass ein Grundvertrauen wieder möglich ist, dass man sie wahrnimmt, dass sie ihre Persönlichkeit wieder frei entfalten können. Wenn wir offen zu diesen Kindern sind, dann mache ich mir um die keine Sorgen", sagt Mücke.

So ganz reibungslos ist dieser Prozess der Wiedereingliederung der Kinder aber nicht, denn auch die Kitas und Schulen haben Sorgen, wer denn nun in ihre heile Welt eindringt. "Wir kennen es auch, dass die Kinder des IS in der Kita oder Schule andere Kinder mobben. Die sagen dann zum Beispiel, ich war beim IS, du aber nicht, ätsch. Natürlich wissen die Kinder nicht, was das Böse daran war", erzählt die Berliner Islamwissenschaftlerin Benz. Insgesamt verläuft der Weg zurück in den schulischen Alltag aber eher unauffällig.

Hilfe für jene, die sich radikalisiert haben

Michael Ortmann, RTL-Terrorismusexperte
RTL-Terrorismusexperte Michael Ortmann.
RTL

Gegen sechs Frauen, die zuletzt in Frankfurt landeten, lagen Haftbefehle vor. Egal ob sie sich dann in U-Haft befinden oder auf freiem Fuß sind: Bei der Rückkehr in ein normales Leben können sie auf ein Netzwerk von Deradikalisierungsprogrammen wie das VPN zugreifen. "Im Prozess mit der Mutter müssen wir dann schauen, was dazu geführt hat, dass sie in die radikale Szene abgerutscht sind. Das sind ja selten ideologische Gründe gewesen. Das ist in der Regel irgendetwas im Leben schiefgegangen. Sie wurden in der Schule gemobbt, es gab familiäre Konflikte, ich bin nicht wahrgenommen worden, ich wurde manipuliert. All das müssen die Personen für sich jetzt erkennen", sagt Thomas Mücke.

Ein weiteres Problem: Auch die Rückkehrkoordinationsstellen oder Projektgelder sind oft befristet. Und bei diesen Rahmenbedingungen verwundert es kaum, dass erfahrene Mitarbeiter langfristig lieber unbefristeten Angeboten in der Branche nachjagen. Dann müssen wieder neue Mitarbeiter gesucht und eingearbeitet werden.

Erfolgreiche Deradikalisierungsmaßnahmen in Belgien

Aus der Forschung mit Kindersoldaten in Afrika wissen wir schon einiges über radikalisierte Heranwachsende. So können auch Kinder beispielsweise schwerste Verbrechen begehen, zum Beispiel, um in ihrer militanten Gruppe akzeptiert zu werden. Und es gibt tatsächlich auch die, die danach auch nicht von Gewissensbissen geplagt werden. Andere hingegen zerbrechen an ihren Taten oder brauchen viel Hilfe, um ins Leben zurückzufinden. Werden aber beide Charaktere Teil eines erprobten Resozialisierungsprogramms, dann sind die Chancen, dass sie – mal schnell, mal eher längerfristig – ihren Weg abseits von Gewalt finden und gehen, sehr gut.

In Belgien ist die Zahl der rückfällig gewordenen ehemaligen Jihadisten beeindruckend niedrig. 95 Prozent der Deradikalisierungsmaßnahmen seien erfolgreich verlaufen, erklärt das belgische Innenministerium. Eine beeindruckende Zahl, die auch uns hoffen lässt. Aber ein Restrisiko wird bleiben.