Eiskalter Knipser
Harry Kane ist der Stürmer, der Deutschland fehlt

Eine alte Fußball-Weisheit lautet, wenn du viele Pokale gewinnen willst, brauchst du hinten und vorne einen richtig guten Spieler. Nun verfügt die deutsche Fußball-Nationalmannschaft über einen der besten Keeper der Welt. Ein Stürmer der Weltklasse fehlt allerdings – Englands Knipser Harry Kane zeigt, wie ein solcher aussehen könnte.
Zwei Haken, freie Fahrt
Es war nur ein kurzer Moment. Aber eine Szene, die verdeutlicht, was Harry Kane neben Toren auch ausmacht. In der 73. Minute des Nations-League-Spiels der englischen Nationalmannschaft gegen Deutschland (1:1) bekommt Kane in der deutschen Hälfte den Ball zugespielt. Mit einer schnellen Körperdrehung windet er sich an Mittelfeld-Terrier Joshua Kimmich vorbei, schüttelt mit einem weiteren Haken Kai Havertz und Serge Gnabry ab und leitet mit einem Pass den nächsten englischen Angriff ein. Vier deutsche Spieler um ihn herum, durchgesetzt hat sich: Harry Kane.
Der 1,88 Meter große Stürmer von Tottenham Hotspur vereint Körpergefühl, Zweikampf-Raffinesse und Technik mit Abschlussstärke und Abgezocktheit. Bei den Spurs in der Premier League und im Nationalteam. Könnte man sich einen Angreifer zurechtbacken, er wäre wohl nicht sehr anders als Kane.
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Das volle Kane-Programm
Und überhaupt die Kaltschnäuzigkeit. Clever zog der 28-Jährige im Strafraum gegen DFB-Innenverteidiger Nico Schlotterbeck einen Elfmeter, nahm den Kontakt des deutschen Abwehrspieles an. Umstritten klar, aber dennoch ein berechtigter Strafstoß, die Berührung war nicht zu bestreiten. Die Chance zum Ausgleich ließ sich Kane nicht nehmen, verwandelte selbst eiskalt (Beeindruckende Elfmeterquote übrigens: 86,8 Prozent). Deutschland erlebte also das volle Kane-Programm.
Zuvor war er mit einem Schuss aus ganz naher Distanz noch an den Pranken von DFB-Schlussmann Neuer gescheitert, der mit einer Wahnsinnsparade (76.) den früheren Ausgleich durch Kane verhindert hatte. Nur das Talent Neuers verhinderte den Kane-Doppelpack.
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Wo ist der deutsche Kane?
Mit seiner Spielweise zeigt Kane der deutschen Mannschaft schmerzhaft auf, welches Element in ihrem Spiel derzeit noch fehlt. Denn bei allem Können, aller Schnelligkeit, Dribbelstärke eines Kai Havertz, Timo Werner oder Jamal Musiala – ein Neuner vom Schlage eines Harry Kane im 4-2-3-1-System sind sie sicher nicht. Dass ein Havertz oder Werner in einem langen Turnier fünf, sechs, sieben Tore machen? Eher unwahrscheinlich.
Kane indes hat schon bewiesen, dass er das Team führen kann – bis in das WM-Halbfinale in Frankreich (2018) oder ins EM-Finale von Wembley, bei der WM wurde er mit sechs Treffern bester Torschütze des Turniers, bei der Euro traf er immerhin vier Mal. Allgemein gilt: Im Nationaltrikot fühlt er sich wohl, dafür sprechen die 50 Tore in 71 Spielen.
Die britische Presse bringt es so auf den Punkt: „England kann sich immer auf Kane verlassen - den Gewinner des Goldenen Schuhs bei der vergangenen Weltmeisterschaft und einen Mann, der nie zu wissen scheint, wann er geschlagen ist, der immer weiß, wo das Tor steht, und der zudem über eine Gerissenheit verfügt, die (Trainer) Southgate sicherlich zu schätzen weiß“, schreibt die „Sun“.
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Kane wie Klose
In gewisser Weise ist Kane der Miroslav Klose Englands. Ein Stürmer, der aus allen Lagen, mit allen Körperteilen trifft und nervenstark ist. Auch Klose gewann einst den goldenen Schuh bei einer WM, wurde mit Deutschland sogar Weltmeister. Nach dem Rücktritt von Mario Gomez ist der letzte Mittelstürmer dieser alten Garde nicht mehr en vogue. Ein klassischer Mittelstürmer wie Kane? Nicht im Kader.
Ein Angreifer, jederzeit bereit zu liefern. Wie schon im EM-Achtelfinale gegen Deutschland, als der Kapitän der „Three Lions“ das EM-Aus der Deutschen und damit die DFB-Karriere von Joachim Löw mit seinem Führungstreffer jäh beendete.
Titel fehlt noch
Es ist ein verlockendes Gedankenspiel: Nimm einen Kane in das deutsche Aufgebot und die Startelf. Allein diese Personalie würde die deutsche Mannschaft wohl umgehend in den Kreis der WM-Top-Favoriten hieven.
Nun ist die Lage aber anders und auch die Engländer hatten Glück. Als Sohn eines Iren hätte Kane auch für die irische Nationalteam auflaufen können. Er entschied sich aber für die „Three Lions“. Nur der große Titel im Verein und mit der Nationalelf fehlt Kane, um auf die allerhöchste Stufe des Weltfußballs zu kommen.
Der nächste Anlauf erfolgt im Winter in Katar. Allerdings hadert das Team von Gareth Southgate mit dem gleichen Problem wie Deutschland, nur andersrum. Einen Weltklasse-Keeper hat das Team in Jordan Pickford nicht. (msc)