Der ewige Michael Zorc und Borussia Dortmund: Von der Nummer 8 zum dienstältesten Manager der Liga
Nach 44 Jahren für Borussia Dortmund in den Ruhestand
Der ewige Michael Zorc: Von der Nummer 8 zum dienstältesten Manager der Liga
von Ulrich Vonstein
Wenn Michael Zorc am Samstag im Dortmunder Westfalenstadion vom Publikum verabschiedet wird, geht nicht nur eine Ära zu Ende. Zorcs Abschied ist der Schluss einer Geschichte, die es so nie wieder geben wird. 44 Jahre im Dienst eines Vereins. Seines Ballspielvereins, dessen Fan er als Junge war, in dessen Jugend er spielte, dessen Profimannschaft er als Kapitän zu Titeln führte. Dessen Geschicke er als Manager und Sportdirektor von der Fast-Pleite zurück an die Spitze lenkte.
"Susi", der Schlaks mit der 8
Als Zorc 1981 sein erstes Bundesligaspiel für Borussia Dortmund bestreitet, gehe ich noch zur Schule. Fußball spielt in meinem Leben eine große Rolle, spiele ich doch selbst mit großer Leidenschaft und weniger großem Können. BVB-Fan bin ich seit der Bundesligarückkehr des Vereins 1976. Weil die eigene Kickerei aber Vorrang hat, verfolge ich die Spiele überwiegend in der "Sportschau" und im "Kicker", noch nicht regelmäßig auf der Tribüne.
Auf "Susi", wie er wegen seiner Lockenpracht genannt wird, werde ich schnell aufmerksam, als ich Mitte der Achtziger beginne, häufiger ins Stadion zu gehen. Hätte mir zu jener Zeit allerdings jemand prophezeit, dass dieser Schlaks mit der Nummer 8 im Mittelfeld mehr als vier Jahrzehnte eine prägende Rolle in unserem Verein einnehmen würde, hätte ich denjenigen vermutlich für bescheuert erklärt. Aber alles, was seitdem passiert ist, ist eng mit Michael Zorc verbunden oder wäre ohne ihn gar nicht möglich gewesen.
"Als wir das Stadion betreten haben, lief uns ein Schauer über den Rücken"
Zorc, in Dortmund geboren, als Jugendspieler vom kleinen Lokalclub Tus Eving-Lindenhorst zum BVB gekommen, genießt hohes Ansehen im Verein, auch und vor allem bei den Fans. Schließlich war er selbst einer, der mit seinem Vater Dieter in die Kampfbahn Rote Erde und später ins Westfalenstadion ging. 1988 wird "Susi" Kapitän der Borussia, er löst Frankie Mill ab. Es ist eine Phase, in der sich Dortmund anschickt, den Glanz vergangener Tage aufleben zu lassen.
Ihm ist es vorbehalten, seine Mannschaft 1989 ins DFB-Pokalfinale in Berlin zu führen. Ein denkwürdiger Tag für alle Borussen. "Als wir das Stadion betreten haben, lief uns ein Schauer über den Rücken – überall nur Schwarz-Gelb. 500 Kilometer von zuhause entfernt kommen 40.000 Fans ins Stadion. Unvorstellbar", sagt Zorc später. Der BVB gewinnt als Außenseiter dieses Spiel gegen Werder Bremen, es ist der erste Titel des Vereins seit 23 Jahren, der erste seit dem Europapokal der Pokalsieger im Jahre 1966. Als Zorc den Pokal in den Berliner Himmel reckt, sehe ich viele gestandene Männer im Olympiastadion um mich herum Tränen der Freude und der Rührung weinen.
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"Für mich ist heute ein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen"
Es ist einer der vielen Wendepunkte in der wechselvollen Geschichte dieses Vereins. Borussia Dortmund "ist wieder wer", kickt auf der europäischen Bühne mit, strebt auch in der Bundesliga nach Höherem. 1992 wird der Verein um ein Haar deutscher Meister, am letzten Spieltag fehlen nur vier Minuten zum großen Wurf. Der folgt drei Jahre später, mit Michael Zorc in der Hauptrolle. 15 Tore steuert der Mittelfeldspieler in jener Saison bei, er ist der beste BVB-Schütze in der Saison 1994/95.
Am 17. Juni 1995 geht die Borussia als Tabellenzweiter in den letzten Spieltag gegen den HSV, Spitzenreiter Werder Bremen muss nach München. An diesem leicht verregneten Junitag stehe ich mit 35.000 Menschen auf dem Dortmunder Friedensplatz und starre gespannt auf eine Riesenleinwand. "Public viewing", lange, bevor es diesen Begriff überhaupt gibt.
Wir sehen Historisches: Bayern schlägt Bremen, wir den HSV. 32 Jahre nach dem letzten Gewinn der Schale ist Borussia Dortmund wieder deutscher Meister. Eine Stadt explodiert. Als ich die Tränen unseres Trainers Ottmar Hitzfeld und die unbändige Freude unserer Spieler sehe, bin auch ich einer dieser Männer in Schwarz-Gelb, die weinen.
Mit dem Getöse eines startenden Düsenjägers
Michael Zorc sagt leise in die Fernsehkameras: "Für mich ist heute ein Kindheitstraum in Erfüllung gegangen. Mehr möchte ich eigentlich gar nicht sagen." So ist er, nach außen zurückhaltend wirkend, doch hinter diese Fassade voller Emotionen, die auch er nicht immer verbergen kann. An jenem Meistertag stehen sie ihm ins Gesicht geschrieben.
Dortmund schwimmt nun auf einer Erfolgswelle, verteidigt 1996 den Titel und zieht ein Jahr später ins Champions-League-Finale ein. Sportlich spielt Zorc zu diesem Zeitpunkt keine Hauptrolle mehr, doch auch der 27. Mai 1997 ist untrennbar mit seinem Namen verbunden. Als der BVB kurz vor Ende der Partie mit 3:1 gegen den haushohen Favoriten Juventus Turin führt, beginnt die Kurve immer lauter "Susi, Susi, Susi" zu rufen.
Nicht nur die Fans wollen ihr Idol sehen. Ich sehe bis heute vor mir, wie die Ersatzspieler wenige Meter vor meinen Augen wild in Richtung Hitzfeld gestikulieren. Als der ihn für Andreas Möller einwechselt, ist Stadionsprecher Nobby Dickels Anspannung zu spüren, als er mit sich fast überschlagender Stimme sagt: "…. mit der Nummer acht Michaeeel…". Mit dem Getöse eines startenden Düsenjägers donnert das halbe Stadion "ZORC." In Großbuchstaben, weil es so laut und so ergreifend war!
Mit 572 Spielen ist Michael Zorc Rekordspieler von Borussia Dortmund
Bei der Pokalübergabe ziert sich Zorc erst, doch die Kameraden schicken natürlich ihren langjährigen Kapitän, um den Henkelpott entgegen zu nehmen. "Auch die Mannschaft hat ein Gespür für Gesten", sagt RTL-Kommentator Marcel Reif.
Das letzte Jahr seiner Spielerkarriere krönt Zorc mit dem Gewinn des Weltpokals in Tokio, im Finale gegen Cruzeiro Belo Horizonte schießt er das vorentscheidende 1:0 gegen die Brasilianer. Im Sommer 1999 bekommt er ein Abschiedsspiel, das ihm gerecht wird. Über 40.000 Menschen bedanken sich bei dem Mann, der bis heute mit 572 Spielen Rekordspieler seines Vereins ist. Nur Adi Preißler ("Grau ist alle Theorie, entscheidend ist auffem Platz") hat mehr Tore für den BVB erzielt.
Vom Platz an den Schreibtisch - ein mühsamer Prozess
Zorc wechselt den Job, aber nicht den Verein. Er rückt ins Management auf und gleich sein erster Transfer wird ein absoluter Volltreffer: Dede, der famose Linksverteidiger und feine Kerl, der 13 Jahre in Dortmund bleiben sollte. Dieser Verpflichtung folgen schwere Jahre für Dortmund. Präsident Gerd Niebaum und Manager Michael Meier haben das Geld mit beiden Händen zum Fenster rausgeworfen, den Verein an die Börse geführt, um frisches zu besorgen – und alles verzockt: der BVB steht vor der Pleite.
Der Ur-Borusse Zorc ist keiner, der in schweren Zeiten von Bord geht, er krempelt wie früher auf dem Platz die Ärmel hoch und kämpft. Hilft beim Wiederaufbau. Es ist ein mühsamer Prozess, er muss sich erst daran gewöhnen, dass ihn nicht mehr nur Sympathien der Anhänger tragen. Es gibt Kritik, oft unberechtigt und unter der Gürtellinie. Zorc lamentiert darüber nicht, doch es ist ihm anzumerken, wie sehr ihn das trifft. Er wirkt dünnhäutig in jenen Jahren, doch er schwimmt sich frei.
Zorcs wichtigster Transfer
Im Sommer 2008 gelingt ihm sein wichtigster Transfer. Es ist kein Spieler, sondern Trainer Jürgen Klopp. Der lüftet den Verein gründlich durch, verpasst dem BVB ein neues Image. Schon nach dem zweiten Jahr sagt Zorc über den Mann, dem er einen Hundewelpen namens "Emma" schenkt: "Jürgen ist ein Glücksfall für Borussia Dortmund. Er kann Leute euphorisieren und ein ganzes Umfeld positiv beeinflussen. Zudem ist er ein hervorragender Fußball-Lehrer und hat schon in Mainz gezeigt, dass er nachhaltig arbeitet." Der Ausgang der Geschichte mit Titeln und einem Champions-League-Finale ist bekannt. Acht Jahre bleibt Klopp, im modernen Fußballgeschäft eine halbe Ewigkeit.
Sportmanager Zorc entwickelt in jenen Jahren ein goldenes Händchen. Spieler wie Shinji Kagawa, Sven Bender und andere werden günstig geholt und teuer verkauft. Viele seiner Transfers passen sportlich perfekt wie Lucas Barrios oder Robert Lewandoski, der spätere Weltfußballer. Andere erweisen sich obendrein auch menschlich als wundervolle Verstärkungen, wie Neven Subotic, Jakub "Kuba" Błaszczykowski oder Lukas "Piszczu" Piszczek.
Schlusskapitel einer denkwürdigen Geschichte
Aus dem Mann, über den Uli Hoeneß einmal so böse spottete ("Wenn der Herr Zorc aufsteht, habe ich längst gefrühstückt"), wird der dienstälteste Manager der Liga. Als er eigentlich in den verdienten Ruhestand gehen will, durchkreuzt eine gewisse Pandemie seine Pläne, die auch den BVB vor Probleme stellt. Zorc bleibt anders als geplant noch auf der Kommandobrücke. Am 14. Mai 2022 schließt sich jedoch auch dieses Kapitel, mit einem Blumenstrauß und viel Applaus.
Um diesen denkwürdigen Moment einzuordnen, erlaube ich mir, mich selbst zu zitieren. "Heute scheint es wie ein böses Märchen, dass der jetzige Sportdirektor vor wenigen Jahren eine umstrittene Figur war. Zorc hat gemeinsam mit uns allen in den Abgrund geblickt, doch er hat sich in bewundernswerter Manier nicht nur aus der Affäre gezogen. Er hat großen Anteil daran, dass Borussia Dortmund seine sprichwörtliche „Und Du stehst immer wieder auf“-Mentalität mit neuem Leben erfüllt hat."
Das schrieb ich anlässlich Zorcs 50. Geburtstag für ein leider im Nirwana des Internets verschwundenes Fanmagazin. Ich zitiere es nicht aus Bequemlichkeit, sondern weil ich das bis heute kaum besser sagen kann. Nur eins noch: Vielen Dank, Michael – für alles!