Betroffene erzählenEin Jahr nach dem Terroranschlag von Solingen

Am Samstag (22.08.) ist es genau ein Jahr her, dass ein Messerangriff das „Festival der Vielfalt” in Solingen jäh beendete – drei Menschen kommen damals ums Leben, viele werden verletzt. Eine Frau und zwei Männer, die mitten im Geschehen waren, schildern jetzt die dramatischen Minuten der Tat – und erzählen, wie sehr sie der Anschlag bis heute prägt.

Ein Platz der Freude und der Trauer

Für Philipp Müller ist der Solinger Fronhof ein Ort der Begegnung, auf dem Menschen miteinander feiern, glücklich sind. Doch seit einem Jahr liegen auf diesem Platz Freude und Trauer ganz nah beieinander. Der Veranstalter des Stadtfestes kann bis heute vor allem ein Bild nicht mehr vergessen. „Krankenwagen trafen ein, als ich hier war, die Polizei traf ein und ich habe gesehen, wie aus einem Hals Blut rausgelaufen ist. Man blockt da ab und man nimmt auch ein Trauma mit. Das muss man verarbeiten im Anschluss“, erzählt der 62-Jährige.

Drei Menschen sterben

Es ist der 23. August 2024. Menschen singen und tanzen. Feiern den 650. Geburtstag ihrer Stadt Solingen. Um kurz nach halb 10 schlägt die heitere Stimmung in Panik um, das Fest wird zur Tragödie. Ein Mann sticht mit einem Messer auf Passanten ein. Wahllos. Mehrfach. Immer in Richtung Hals. Er tötet drei Menschen. Acht werden schwer verletzt. 24 Stunden nach der Attacke nimmt die Polizei den Täter fest: Issa al H., ein abgelehnter Asylbewerber aus Syrien. Er soll der Terrormiliz Islamischer Staat in Videos die Treue geschworen haben.

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Sie hat den Angriff überlebt

Lea Varoquier will einfach nur ausgelassen einen schönen Abend mit ihrer Mutter verbringen. Der Attentäter sticht beiden in den Hals. Sie überleben – schwer verletzt. Erst sind es vor allem körperliche Beschwerden, mit denen die 26-Jährige zu kämpfen hat. Mittlerweile ist es eher die Psyche, die Probleme macht. Menschenmassen machen Lea Varoquier nervös – beruflich muss sie allerdings oft auf Großveranstaltungen unterwegs sein. Das ist nicht einfach für die junge Frau: „Ich muss wissen, was in meiner Umgebung passiert. Ich muss wissen, was die Leute tun. Ich muss sehen, was vor, hinter, neben mir passiert.“

Dutzende Menschen bringen sich bei ihm in Sicherheit

Erdogan Aytemür erlebt den Anschlag direkt vor der eigenen Haustür. Seine Pizzeria am Fronhof wird in Sekunden zum Zufluchtsort: Dutzende Menschen suchen Schutz, niemand weiß, wer und wo der Täter ist. Eine Sache geht dem Solinger dabei nicht mehr aus dem Kopf: „Ein Apotheker hat Erste Hilfe geleistet. Er wollte sich hier die Hände waschen, die waren voller Blut. Ich habe in seinen Augen die Angst gesehen.“ In den Wochen nach der Tat ist Solingen wie ausgestorben, erinnert sich Gastronom Erdogan Aytemür. Auch seine Pizzeria schließt für zwei Wochen. Das Attentat habe die Stadt und ihre Menschen verändert. Noch jetzt meiden viele Solinger den Fronhof in der Innenstadt. „Für uns war das einfach alles total schrecklich. Meine Kinder können abends auch mit den Hunden hier nicht mehr raus, weil sie sich nicht mehr sicher fühlen“, erzählt ein Passant.

Solingen feiert weiter

Trotz des grausamen Attentates war für Veranstalter Philipp Müller sofort klar: Es muss auch weiterhin Feste in Solingen geben. „Diese Leute dürfen nicht gewinnen. Wir müssen unsere freiheitliche Grundordnung feiern, weil es einfach eine gute Staatsform ist“, sagt er voller Überzeugung. Schon vor zwei Wochen setzt Solingen deshalb ein Zeichen: Zehntausende kommen zum Sommer- und Winzerfest – unter dem Motto „Wir feiern weiter“. „Wenn wir alle nachgeben und uns verstecken, dann haben wir gar nichts mehr. Und die Leute hier wollen leben“, so eine Passantin am Fronhof. Eine andere Solingerin betont: „Wir werden uns nicht unterkriegen lassen.“

Gedenken am Samstag (23.08.)

Issa al H. steht mittlerweile in Düsseldorf vor Gericht – angeklagt wegen dreifachen Mordes und zehnfachen Mordversuchs. Ein Urteil soll im September fallen. Aber genauso wichtig wie der Prozess ist für die Solinger das gemeinsame Erinnern – am Samstag (23.08.) bei einer Gedenkveranstaltung für die Opfer.