Zwei von einer Million Frauen betroffen

Tia (31) hat seltenes Fowler-Syndrom! „Ich habe seit acht Jahren nicht mehr gepinkelt“

Fowler-Syndrom: Tias (31) Blase kann sich nicht mehr auf natürliche Weise entleeren.
Tias (31) Blase kann sich nicht mehr auf natürliche Weise entleeren.
Jam Press
von Svenja Hoffmann und Vera Dünnwald

„Egal, wie sehr ich mich anstrengte, ich konnte einfach nicht auf die Toilette gehen.“
Ein Prozess, der für die meisten von uns selbstverständlich ist, war bei Tia Castle (31) von heute auf morgen einfach nicht mehr möglich. Sie konnte plötzlich kein Pipi mehr machen. Der Grund: Sie leidet am seltenen Fowler-Christmas-Chapple-Syndrom. Was hat es damit auf sich und kann das jeden treffen?

Zwei Liter Wasser sammelten sich in Tias Körper an

Es kam von jetzt auf gleich: Mit 23 Jahren konnte Tia Castle (31) aus Glasgow in Schottland plötzlich nicht mehr auf die Toilette gehen. Nach einigen Tagen sei ihr Bauch dadurch extrem angeschwollen und sie habe „unerträgliche” Schmerzen bekommen, wie sie im Interview mit NeedToKnow erzählt.

Sie konnte nicht anders, als daraufhin ins Krankenhaus zu fahren. Dort habe man eine Sepsis in den Harnwegen diagnostiziert. Kein Wunder: Unfassbare zwei Liter Wasser hätten sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Tias Körper angesammelt. Zum Vergleich: Normalerweise liegt das Fassungsvermögen der weiblichen Blase bei maximal 500 Millilitern.

Neun Monate lang habe die Schottin daraufhin mithilfe eines Katheters auf die Toilette gehen müssen. „Ich hatte höllische Schmerzen, aber egal, wie sehr ich mich anstrengte, ich konnte einfach nicht auf die Toilette gehen“, erinnert sich Tia an diese Zeit zurück.

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Nach fast zwei Jahren erhält Tia die Diagnose Fowler-Syndrom

Tia habe immer mehr die Hoffnung verloren. Doch irgendwann habe ihr ein Freund vom sogenannten Fowler-Christmas-Chapple-Syndrom (kurz Fowler-Syndrom) erzählt. Ihre Symptome hätten dazu gepasst. Also entschied sich Tia 2016 ihre Ärzte aufzusuchen. Doch zur finalen Diagnose sollte es erst ein Jahr später kommen.

Bevor nötige Tests durchgeführt werden konnten, sei Tia nämlich erneut mit einer Sepsis in Krankenhaus eingeliefert worden. Mehreren Operationen habe sich die junge Frau daraufhin unterziehen müssen, in denen ihr ein Dauerkatheter quer durch den Körper verlegt wurde.

2017 wurde ihr Verdacht, am Fowler-Syndrom erkrankt zu sein, dann schließlich bestätigt.

Zwar sei Tia zum einen froh gewesen, endlich zu wissen, was mit ihr nicht stimmt. Doch nach der Diagnose sei sie gleichzeitig am Boden zerstört gewesen.

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Fowler-Christmas-Chapple-Syndrom: Wenn Frau plötzlich nicht mehr pinkeln kann

Was genau steckt hinter dem Fowler-Christmas-Chapple-Syndrom, das dafür sorgt, dass Betroffene nicht mehr „normal“ auf Toilette gehen können? Der Allgemeinmediziner und Medizinjournalist Dr. Christoph Specht erklärt bereits in einem früheren im RTL-Interview: „Das ist eine extrem seltene Krankheit und auf jeden Fall eine Dauergeschichte. Nur wenige Menschen sind betroffen, auch wenn die Dunkelziffer vermutlich höher sein wird, alleine schon aufgrund der verschiedenen Ausprägungen. Am meisten trifft es tatsächlich Frauen, ungefähr ab der ersten Regelblutung bis hin zur Menopause.“

Die Ursachen seien bisher nicht bekannt. „Man weiß nicht, woher das Syndrom kommt oder woran es liegt. Das kann einfach kommen. Diskutiert werden aber hormonelle Ursachen“, so der Mediziner. Dr. Specht erklärt außerdem, dass man – auch wenn es rein theoretisch jede Frau treffen kann– nicht in Panik verfallen solle: „Das Syndrom tritt nicht in der Masse auf und ist sehr einzelfallig und selten.“

Erst 1985 wurde das Fowler-Syndrom überhaupt entdeckt. Der Name geht zurück auf die Autorin der Erstbeschreibung der Krankheit: Ärztin Clare J. Fowler.

Wie funktioniert die menschliche Blase normalerweise?

Eigentlich passiert in unserem Körper folgendes: „Unsere Nieren produzieren Urin, der anschließend die Harnleiter herunter in die Blase läuft. Die Blase fungiert als eine Art Tank und lagert den Urin zwischen. Wenn wir dann zur Toilette gehen, wird der Urin über die Harnröhre nach außen transportiert und die Blase somit entleert.“

Und natürlich wissen wir: Damit sich unsere Blase nicht ständig von selbst entleert, gibt es einen Verschluss, der das Ganze aufhält. „Dieser liegt am unteren Teil der Blase, am Übergang zur Harnröhre. Er ist muskulär und im Normalzustand zu. Öffnen wir ihn auf Toilette, setzt der Pinkel-Reflex ein – mittlerweile in der Regel willentlich, als kleines Kind eher unwillentlich –, die Muskulatur entspannt sich und wir können urinieren.“

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Beim Fowler-Christmas-Chapple-Syndrom liegt das Problem beim Öffnen des Verschlussmuskels. Dr. Specht sagt: „Der funktioniert nicht richtig. Das heißt, das Signal, dass man eigentlich locker lassen könnte, kommt nicht beim Muskel an. Der Verschluss ist ständig zu. Das ist unangenehm, denn man hat so die ganze Zeit das Gefühl einer vollen Blase.“ Irgendwann bleibe einem nichts anderes mehr übrig, als zum Arzt zu gehen. Das ist nämlich nicht nur unangenehm, sondern könnte auch dafür sorgen, dass sich Infektionen breitmachen.

Sie trifft eine lebensverändernde Entscheidung: Tia lebt jetzt ohne Blase

So wie es auch bei Tia Castle der Fall war. Zahlreiche Eingriffe und Behandlungsmethoden habe sie in den vergangenen acht Jahren ausprobiert. „Man bot mir sogar eine Operation an, bei der ein Teil meiner Blase entfernt wurde, um einen neuen Weg für den Urinfluss zu schaffen. Aber leider funktionierte nichts.”

Im Mai 2022 habe sie dann beschlossen, dass es genug ist. Tia traf eine lebensverändernde Entscheidung. Wie sie im Interview mit NeedToKnow verrät, habe sie sich ihre Blase vollständig entfernen und ein Stoma legen zu lassen. Bei einem Stoma handelt es sich um eine operativ geschaffene Körperöffnung. Durch sie können Körperflüssigkeiten aus einem Hohlorgan – wie der Blase – künstlich aus dem Körper herausgeleitet werden.

Zwar habe Tia nach wie vor mit mit ständigen „unkontrollierbaren“ Infektionen zu kämpfen. Dennoch sagt sie, dass ihr das Stoma ein neues Leben geschenkt habe. (vdü/vho)