„Man muss genauer hinschauen”Nach Flucht und Angriff von Vergewaltiger bei Freigang: Hat das Justizsystem versagt?

Bis zu seiner Flucht saß der Verbrecher in der Justizvollzugsanstalt Tegel ein
Mike L. befand sich während der Attacke im Freigang aus der JVA Tegel und ist seitdem auf der Flucht.
picture alliance / Joko
von Cathleen Bergholz und Stephanie Heuser

Die Polizei muss jetzt ausbaden, was die Justiz verbockt hat! In Berlin wurde eine Frau von ihrem Partner mit einem Messer schwer verletzt. Der Tatverdächtige, der wegen Vergewaltigung verurteilte Mike L., befand sich während der Attacke im Freigang aus der JVA Tegel und ist seitdem auf der Flucht. Der Pressesprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP) hinterfragt nach dem Vorfall Teile des deutschen Rechtssystems.

GdP-Sprecher Jendro kritisiert Justiz: „Wir fragen uns, wie da geprüft wird“

Im Gespräch mit RTL erklärt Benjamin Jendro, Pressesprecher der Gewerkschaft der Polizei Berlin, dass viele Einsatzkräfte zunehmend Zweifel an den aktuellen Freigangsregelungen und Entlassungsprüfungen für Inhaftierte hätten: „Es ist schon so, dass unsere Kolleginnen und Kollegen sich häufig fragen auch wenn sie bei häuslicher Gewalt oder Gewaltstraftaten jemanden in eine psychiatrische Einrichtung bringen –, dass diese Personen sofort wieder rauskommen und wir am nächsten Tag wieder ausrücken müssen.“

Freigänge und andere Lockerungen werden in Deutschland von der jeweiligen Justizvollzugsanstalt entschieden, die dafür das Verhalten des Gefangenen, Therapieverläufe und eine Gefährlichkeitsprognose bewertet. Über eine mögliche vorzeitige Entlassung befindet hingegen die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts auf Basis von Gutachten und den Stellungnahmen der JVA und Staatsanwaltschaft. So sollen Sicherheit und Resozialisierung gleichermaßen berücksichtigt werden.

Solche Fälle wie der von Mike L. sollten in seinen Augen ein Anlass dafür sein, sich das ganze System noch einmal anzuschauen. Im Zweifel entscheide das System oft zugunsten der Täter, führt Jendro weiter aus.

Benjamin Jendro (GdP) steht vor einer Kamera
Benjamin Jendro, Pressesprecher der Gewerkschaft der Polizei Berlin
RTL

„Vielleicht sollte man genauer hinschauen“ – Forderung nach strengeren Kriterien bei Gewalt- und Sexualstraftätern

Er hat in diesem Zusammenhang eine eindeutige Forderung, die Freigänge für Sexual- und Gewaltstraftäter betrifft: Diese sollten deutlich strenger geprüft werden. „Vielleicht sollte man noch einmal genauer hinschauen, bevor jemand so einen Freigang bekommt“, schließt er sein Argument ab. Gerade bei diesen Gruppen würde man über Menschen reden, die schwere Taten begangen hätten. Da müsse man auch in Kauf nehmen, dass sie nicht so schnell wieder in den offenen Vollzug oder in den Freigang kommen.

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„Resozialisierung ist nicht immer der richtige Weg“

Der GdP-Sprecher betont, dass Resozialisierung wichtig, aber nicht in jedem Fall sinnvoll sei: „Wenn verurteilte Straftäter nicht im Gefängnis sitzen, sondern im öffentlichen Raum unterwegs sind, gibt es immer ein Restrisiko.” Das müsse man genau abwägen.

„Wir dürfen nicht Menschen ihr Leben lang wegsperren, weil sie Kaugummis geklaut haben – aber bei schwerwiegenden Taten müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass Resozialisierung nicht immer der richtige Weg ist.“

Warum wurde die Öffentlichkeit nicht gewarnt?

Der 37-jährige Mike L. hätte in wenigen Wochen aus der Haft entlassen werden sollen und absolvierte bereits mehrere Freigänge zur Vorbereitung auf seine Entlassung. Laut Medienberichten nahm er an Weiterbildungen teil und kehrte stets ohne Probleme in die JVA Tegel zurück. Aufgrund eines positiv eingeschätzten Therapieverlaufs erhielt er seit Herbst 2024 zunehmend unbegleitete Ausgänge.

Am Sonntag, dem 23. November, kehrte L. jedoch nicht von einem Ausgang zurück. Stattdessen soll er im Berliner Stadtteil Lankwitz seiner aktuellen Partnerin aufgelauert und sie mit einem Messer schwer verletzt haben. Die Frau konnte das Krankenhaus inzwischen wieder verlassen. Die Polizei bestätigt, dass der Tatverdächtige auf der Flucht ist.

Unklar bleibt, warum die Öffentlichkeit bislang nicht mit einem Foto gewarnt wurde. Die Berliner Justizverwaltung bestätigte lediglich, dass ein Gefangener nicht zurückgekehrt sei und dass es einen tätlichen Angriff auf dessen Partnerin gegeben habe. Entgegen ersten Meldungen handelte es sich dabei nicht um seine Ex-Frau.

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Der Fall Mike L.: Das sind seine Vorstrafen

Laut früheren Gerichts- und Medienberichten ist L. wegen mehrerer schwerer Delikte vorbestraft, darunter Vergewaltigung, Körperverletzung, Nötigung und Brandstiftung. Die Taten sollen aus einer früheren, von Gewalt geprägten Beziehung stammen, in deren Verlauf er seine damalige Partnerin 2020 entführt und misshandelt haben soll. Seit 2020 saß er in Untersuchungshaft bzw. im Strafvollzug, bevor er 2023 in die Sozialtherapie verlegt wurde und schrittweise Freigänge erhielt – bis zum Vorfall am vergangenen Wochenende.

Verwendete Quellen: Bild; Berliner Zeitung; Tagesspiegel; eigene RTL-Recherchen