30 Jahre Mauerfall

Wir sind ein Volk: Gemeinschaft kann Mauern niederreißen

Am 9. November 1989 gegen 19.00 Uhr sagte der Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED für Informationswesen, Günter Schabowski, schließlich – nach mehreren Nachfragen – den entscheidenden Satz. Eigentlich waren es zwei Halbsätze, doch ihre Bedeutung war jedem klar: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort“

Eine Nachricht geht um die Welt

ARCHIV - Ein ernstes Gesicht macht Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros des ZK der SED und 1. Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin, auf der Pressekonferenz am 09.11.1989. Auf ihr gab Schabowski die Öffnung der Grenze bekannt. Mit dem Fall der Mauer in der Nacht vom 09. auf den 10.11.1989 begann der Wiedervereinigungsprozess des geteilten Landes. Foto: dpa (zu dpa-Themenpaket vom 27.10.) nur s/w   +++(c) dpa - Bildfunk+++
Günter Schabowski bei der Pressekonferenz
picture-alliance/ dpa, dpa

Über die Nachrichtenagentur Reuters erreichte die historische Nachricht kurz danach die Nachrichtenredaktionen dieser Welt: Unter dem Betreff „EILT DDR – Ausreise“ hieß es knapp: „Ausreise über alle DDR-Grenzübergänge ab sofort möglich – Schabowski.“

In zwei bis drei Atemzügen, mit acht grammatikalisch nicht richtig zusammenhängenden Worten, schleuderte Schabowski die Abrissbirne gegen die Berliner Mauer. Möglich gemacht hatten diesen Moment jedoch andere. Hunderttausende Bürger der DDR, die beharrlich, mit Nachdruck und friedlich seit dem 4. September vor allem in Leipzig Montag für Montag auf die Straße gegangen waren.

Glasnost und Perestroika

1RD-385-B1988-1 (468580)

Gorbatschow,Uno-Vollversammlung N.Y. '88

Gorbatschow, Michail
sowjet. Politiker (Generalsekretär des
ZK der KPdSU, Vorsitzender des Präsi-
diums des Obersten Sowjets der UdSSR),
geb. Prowolnoje bei Stawropol 2.3.1931.
- Michail Gorbatschow während einer
Ansprache vor der Vollversammlung der
Vereinten Nationen in New York. -
Foto, 7. Dezember 1988.

F:
Gorbatchev, Mikhaïl Sergueïevitch ; homme d'État soviétique

Gorbatchev, Mikhaïl Sergueïevitch ; homme d'État soviétique
(secrétaire général du parti communiste soviétique 1952-1991
) ; né à Priovolnoïe près de Stavropol 2.3.1931. -Mikhaïl Go
rbatchev lors d'un discours à l'Assemblée générale des Natio
ns Unis à New York. - 7 décembre 1988.
Gorbatschow spricht vor UNO-Vollversammlung in New York 1988
picture alliance / akg-images, akg-images

Angetrieben durch die Politik des sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow – Glasnost und Perestroika – und bestärkt durch den Wandel in anderen Ostblockstaaten wie Ungarn und Polen, trauten sich in der DDR immer mehr Menschen auf die Straße. Die Friedensgebete in der Leipziger Nikolai-Kirche, die es bereits seit 1982 gab, wurden zum Ausgangspunkt für den Protest. Der Wunsch dieser Gemeinschaft nach Wandel im eigenen Land wurde immer größer, vor allem weil Gorbatschows Politik der Öffnung in der SED-Führung um den Generalsekretär Erich Honecker nicht auf Zustimmung traf.

Doch wie sehr die Mitglieder des ZK auch versuchten, an der bestehenden Ordnung festzuhalten, die Gemeinschaft derer, die sich trauten gegen das Regime aufzustehen, hielt diesen oft repressiven Versuchen stand und verstärkte ihrerseits den Druck auf die DDR-Führung, die sich im Herbst 1989 bereits in einem desolaten Zustand befand. Um den Willen des Volkes zu ignorieren, war dieser mittlerweile zu stark. Um ihn zu unterdrücken, blieb den Machthabern nur noch ein Mittel: Gewalt.

Furcht vor der "Chinesischen Lösung"

FILE - In this June 5, 1989 file photo, a Chinese man stands alone to block a line of tanks heading east on Beijing's Changan Blvd. from Tiananmen Square in Beijing. A quarter century after the Communist Party¿s attack on demonstrations centered on Tiananmen Square on June 4, 1989, the ruling party prohibits public discussion and 1989 is banned from textbooks and Chinese websites. (AP Photo/Jeff Widener, File)
Peking, Platz des himmlischen Friedens: Ein Student stellt sich Panzern in den Weg. Die Proteste wurden gewaltsam niedergeschlagen
picture alliance / AP Photo, Jeff Widener

Nur wenige Monate zuvor hatte die chinesische Führung die Proteste auf dem Platz des himmlischen Friedens brutal niedergeschlagen – und Vertreter des SED-Regimes hatten dafür lobende Worte gefunden.

Für diese „Chinesische Lösung“ fehlte den DDR-Oberen jedoch die Rückendeckung aus Moskau. Das machte Gorbatschow Honecker anlässlich der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR unmissverständlich klar. Während Honecker an der Redewendung „Den Sozialismus in seinem Verlauf hält weder Ochs noch Esel auf“ festhielt, setzte ihm Gorbatschow an jenem 7. Oktober den berühmten Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ entgegen. Wobei nicht sicher ist, ob der Satz so gefallen ist. Verbrieft ist der Satz: „Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ Was im Grunde wahrscheinlich das Gleiche bedeutete wie das Urteil, das Altkanzler Helmut Schmidt über Honecker fällte: „Er ist mir als ein Mann von beschränkter Urteilskraft erschienen.“

Nicht so gute Freunde

Das Archivbild vom 08.10.1989 zeigt den traditionellen Bruderkuss zwischen dem sowjetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow (l) und dem Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker (r) bei der Ankunft Gorbatschows in Ost-Berlin zu den Feierlichkeiten zum 40-jährigen Staatsjubiläum der DDR. Wie schon zur Gründung der DDR kam Ende der 80er Jahre der entscheidende Impuls zu ihrem Niedergang aus Moskau. Mit Gorbatschow im Rücken fühlten sich die Oppositionellen in der DDR gestärkt, während die SED-Führung unter Honecker weiter abblockte. dpa (Zu dpa-Korr: "Zehn Jahre Wende" vom 04.10.1999)
Honecker und Gorbatschow beim Bruderkuss, Oktober 1989, Ost-Berlin

Während der Feierlichkeiten nahmen die Proteste zu. Als Honecker und Gorbatschow durch die Straßen Ost-Berlins fuhren, feierten die Menschen am Straßenrand Gorbatschow – und demütigten damit gleichzeitig Honecker. Zogen am 4. September ungefähr 1.200 Menschen durch Leipzig, waren es zwei Tage nach dem 40. Geburtstag der DDR angeblich ca. 130.000. „Wir sind das Volk“ schallte es durch die Straßen. Bald sollte es heißen: „Wir sind ein Volk“, womit gemeint war: Demonstranten und Sicherheitskräfte stehen sich zwar scheinbar gegenüber, aber im Grunde sind alle auf derselben Seite. Heute weiß man um die Wahrheit dieser These, viele Sicherheitskräfte hätten sich geweigert, auf ihre Landsleute, ihre Mitbürger zu schießen.

Historisches Missverständnis

ARCHIV - Der Schabowski-Zettel, fotografiert am 15.04.2015 in Bonn (Nordrhein-Westfalen) im Haus der Geschichte.  Das damalige Mitglied des Politbüros des Zentralkomitees der SED Günter Schabowski las auf einer Pressekonferenz am 09. November 1989 von dem Zettel eine neue Regelung für Reisen ins westliche Ausland für DDR-Bürger ab. Daraufhin brach einen Massenansturm von DDR-Bürgern auf die Grenze nach West-Berlin aus. Der Zettel galt lange Zeit als verschollen und ist ab dem 16.04.2015 im Original im Haus der Geschichte in Bonn zu sehen.  Foto: Oliver Berg/dpa    (zu dpa "Günter Schabowski" vom 01.11.2015) +++(c) dpa - Bildfunk+++
Zettel von Günter Schabowski

Darüber hinaus weiß man heute: Schabowskis berühmte Worte beruhten auf einem Missverständnis. Er hatte die Sitzung des ZK verpasst und nicht gewusst, dass die neue Reiseverordnung erst am nächsten Tag in Kraft treten sollte. Es hatte ihm auch niemand gesagt, als man ihm den Zettel mit dem Wortlaut der Regelung für die Pressekonferenz in die Hand gedrückt hatte. Und so gab Schabowski auf dieser live im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz quasi den Abrissbefehl für die Berliner Mauer.

Es war ein eklatanter Fehler des ZK, der Deutschland die bewegenden Szenen des 9. November bescherte. Ohne die Gemeinschaft der Hunderttausenden, die für Veränderungen auf die Straße gingen, wäre die Situation im Herbst 1989 eine andere gewesen, die zu diesem Fehler führte, allerdings nie entstanden. Und die SED-Führung hätte niemals unter diesem gewaltigem Druck gestanden, handeln zu müssen. Und nur so waren solch eklatanten Fehler möglich. Der Sturz der Mauer, der am Abend des 9. November begann, als Wessis und Ossis mit Hämmern und Meißeln gemeinsam auf sie einschlugen, ist das Vermächtnis des Mutes der Demonstranten, gemeinsam für ihre Freiheit auf die Straße zu gehen.

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