30 Jahre Mauerfall
Wir sind ein Volk: Gemeinschaft kann Mauern niederreißen
Am 9. November 1989 gegen 19.00 Uhr sagte der Sekretär des Zentralkomitees (ZK) der SED für Informationswesen, Günter Schabowski, schließlich – nach mehreren Nachfragen – den entscheidenden Satz. Eigentlich waren es zwei Halbsätze, doch ihre Bedeutung war jedem klar: „Das tritt nach meiner Kenntnis … ist das sofort“
Eine Nachricht geht um die Welt

Über die Nachrichtenagentur Reuters erreichte die historische Nachricht kurz danach die Nachrichtenredaktionen dieser Welt: Unter dem Betreff „EILT DDR – Ausreise“ hieß es knapp: „Ausreise über alle DDR-Grenzübergänge ab sofort möglich – Schabowski.“
In zwei bis drei Atemzügen, mit acht grammatikalisch nicht richtig zusammenhängenden Worten, schleuderte Schabowski die Abrissbirne gegen die Berliner Mauer. Möglich gemacht hatten diesen Moment jedoch andere. Hunderttausende Bürger der DDR, die beharrlich, mit Nachdruck und friedlich seit dem 4. September vor allem in Leipzig Montag für Montag auf die Straße gegangen waren.
Glasnost und Perestroika

Angetrieben durch die Politik des sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow – Glasnost und Perestroika – und bestärkt durch den Wandel in anderen Ostblockstaaten wie Ungarn und Polen, trauten sich in der DDR immer mehr Menschen auf die Straße. Die Friedensgebete in der Leipziger Nikolai-Kirche, die es bereits seit 1982 gab, wurden zum Ausgangspunkt für den Protest. Der Wunsch dieser Gemeinschaft nach Wandel im eigenen Land wurde immer größer, vor allem weil Gorbatschows Politik der Öffnung in der SED-Führung um den Generalsekretär Erich Honecker nicht auf Zustimmung traf.
Doch wie sehr die Mitglieder des ZK auch versuchten, an der bestehenden Ordnung festzuhalten, die Gemeinschaft derer, die sich trauten gegen das Regime aufzustehen, hielt diesen oft repressiven Versuchen stand und verstärkte ihrerseits den Druck auf die DDR-Führung, die sich im Herbst 1989 bereits in einem desolaten Zustand befand. Um den Willen des Volkes zu ignorieren, war dieser mittlerweile zu stark. Um ihn zu unterdrücken, blieb den Machthabern nur noch ein Mittel: Gewalt.
Furcht vor der "Chinesischen Lösung"

Nur wenige Monate zuvor hatte die chinesische Führung die Proteste auf dem Platz des himmlischen Friedens brutal niedergeschlagen – und Vertreter des SED-Regimes hatten dafür lobende Worte gefunden.
Für diese „Chinesische Lösung“ fehlte den DDR-Oberen jedoch die Rückendeckung aus Moskau. Das machte Gorbatschow Honecker anlässlich der Feiern zum 40. Jahrestag der DDR unmissverständlich klar. Während Honecker an der Redewendung „Den Sozialismus in seinem Verlauf hält weder Ochs noch Esel auf“ festhielt, setzte ihm Gorbatschow an jenem 7. Oktober den berühmten Satz „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben“ entgegen. Wobei nicht sicher ist, ob der Satz so gefallen ist. Verbrieft ist der Satz: „Ich glaube, Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren.“ Was im Grunde wahrscheinlich das Gleiche bedeutete wie das Urteil, das Altkanzler Helmut Schmidt über Honecker fällte: „Er ist mir als ein Mann von beschränkter Urteilskraft erschienen.“
Nicht so gute Freunde

Während der Feierlichkeiten nahmen die Proteste zu. Als Honecker und Gorbatschow durch die Straßen Ost-Berlins fuhren, feierten die Menschen am Straßenrand Gorbatschow – und demütigten damit gleichzeitig Honecker. Zogen am 4. September ungefähr 1.200 Menschen durch Leipzig, waren es zwei Tage nach dem 40. Geburtstag der DDR angeblich ca. 130.000. „Wir sind das Volk“ schallte es durch die Straßen. Bald sollte es heißen: „Wir sind ein Volk“, womit gemeint war: Demonstranten und Sicherheitskräfte stehen sich zwar scheinbar gegenüber, aber im Grunde sind alle auf derselben Seite. Heute weiß man um die Wahrheit dieser These, viele Sicherheitskräfte hätten sich geweigert, auf ihre Landsleute, ihre Mitbürger zu schießen.
Historisches Missverständnis

Darüber hinaus weiß man heute: Schabowskis berühmte Worte beruhten auf einem Missverständnis. Er hatte die Sitzung des ZK verpasst und nicht gewusst, dass die neue Reiseverordnung erst am nächsten Tag in Kraft treten sollte. Es hatte ihm auch niemand gesagt, als man ihm den Zettel mit dem Wortlaut der Regelung für die Pressekonferenz in die Hand gedrückt hatte. Und so gab Schabowski auf dieser live im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz quasi den Abrissbefehl für die Berliner Mauer.
Es war ein eklatanter Fehler des ZK, der Deutschland die bewegenden Szenen des 9. November bescherte. Ohne die Gemeinschaft der Hunderttausenden, die für Veränderungen auf die Straße gingen, wäre die Situation im Herbst 1989 eine andere gewesen, die zu diesem Fehler führte, allerdings nie entstanden. Und die SED-Führung hätte niemals unter diesem gewaltigem Druck gestanden, handeln zu müssen. Und nur so waren solch eklatanten Fehler möglich. Der Sturz der Mauer, der am Abend des 9. November begann, als Wessis und Ossis mit Hämmern und Meißeln gemeinsam auf sie einschlugen, ist das Vermächtnis des Mutes der Demonstranten, gemeinsam für ihre Freiheit auf die Straße zu gehen.