"BETET FÜR UNSERE MÄNNER!"
Von Spott zu Gebeten – wie die ukrainische Offensive die Kreml-Propaganda ins Chaos stürzte
von Ellen Ivits
Der Durchbruch der ukrainischen Truppen im Nordosten des Landes hat Russland kalt erwischt. Wie sehr die Führung im Kreml überrumpelt war, lässt sich auch an der Propaganda erkennen, die ohne Leitfaden nicht wusste, wie sie die Niederlage erklären sollte – und das Unsägliche aussprach.
Am 6. September erschienen auf militärischen Telegrammkanälen die ersten unbestätigten Berichte über den Beginn einer ukrainischen Gegenoffensive in der Region Charkiw. Am 11. September brachten die Streitkräfte der Ukraine Dutzende von Siedlungen zurück unter ihre Kontrolle und erreichten die russische Grenze. Sechs Tage, an denen die Kreml-Propaganda wahre Purzelbäume schlug – in dem Versuch, das Unsägliche zu erklären.
Denn das war es für die Propagandisten tatsächlich: Die ukrainischen die Geländegewinne überstiegen offenbar binnen weniger als einer Woche diejenigen der russischen Truppen seit April. Die Befreiung von Isjum ist der bedeutendste militärische Erfolg der Ukraine seit dem Sieg in der Schlacht um Kiew im März, sind sich Militärexperten einig.
Aber wie erklärt man das einem Publikum, dem man seit Monaten eingetrichtert hat, dass man schon bald einen Sieg über die Ukraine erringen werde? Das wussten auch die Propagandisten nicht. Wie überrumpelt die Führung im Kreml von dem ukrainischen Vorstoß gewesen sein muss, lässt sich nicht nur an der desaströsen Flucht russischer Truppen erkennen, sondern auch an dem kopflosen Chaos, das in den vergangenen Tagen im Staatsfernsehen ausgebrochen ist.
Ohne einen festen Leitfaden aus dem Kreml, der üblicherweise minutiös vorschreibt, welches Narrativ aus den Fernsehlautsprechern schallen soll, erzählte jeder das, was ihm in den Momenten voller Ungewissheit vorschwebte.
Die Ruhe vor dem Sturm
Vielsagend war etwa die Entwicklung des Programms der Sendung "60 Minuten". Die Polit-Talkshow dauert entgegen ihrem Titel zweieinhalb Stunden und wird zwei Mal pro Tag auf dem Staatssender Rossija 1 ausgestrahlt. Fünf Stunden täglich flimmern die hassverzerrten Gesichter der Moderatoren Ewgenij Popow und Olga Skabejewa auf den TV-Bildschirmen. Das Ehepaar gehört zu den treuesten Einpeitschern der Kreml-Propaganda. Und wird dafür belohnt: Seit 2021 sitzt Popow in der Staatsduma, als Abgeordneter der Regierungspartei "Einiges Russland". Außerdem trägt er den schillernden Titel des "Stellvertretenden Vorsitzenden des Ausschusses für Informationspolitik, Informationstechnologien und Kommunikation der Staatsduma der Russischen Föderation". (Mehr zu Popow und seinen Belohnungen erfahren Sie hier.)
Als am 6. September die ukrainische Offensive begann, lachte seine Frau Skabejewa mit ihren Studiogästen über die Ankündigungen aus Kiew. Der zugeschaltete Kriegsreporter Alexander Sladkow schwadronierte in der Morgenausgabe gar von russischen Landgewinnen. "Wir lassen sie nicht vorwärtskommen, wir lassen keine Gegenoffensive zu", sagte er in Richtung der ukrainischen Streitkräfte.
In der Abendausgabe erklang hingegen ein leicht anderer Ton. Ein offizieller Vertreter der selbstproklamierten Republik Donezk erklärte: "Die Situation ist nicht einfach, die Situation ist nicht lustig." Die ukrainische Offensive sei aber "eine sehr abenteuerliche Operation" und fügte hinzu: "Ich bin sicher, dass sie keinen Erfolg haben werden, aber wir dürfen uns nicht entspannen."
"Was heute passiert ist, war geplant"
Schon am nächsten Tag meldeten russische Telegramkanäle, dass die Siedlung Balakleja von ukrainischen Truppen umzingelt sei. Um das Publikum zu beruhigen, berief Skabejewa einen Stammgast ins Studio. Apti Alaudinow, ein Kommandeur der Sondereinheit "Achmat", gab sein Bestes, um allen weiszumachen, dass die ukrainische Offensive bereits "festgefahren" sei. Mehr noch: Die ganze Operation sei dazu erdacht worden, "Milliarden zu waschen", die in der Ukraine veruntreut worden seien. Er forderte die Zuschauer auf, nicht in Panik zu geraten: "Was heute passiert ist, war geplant. Die Ukrainer denken, dass sei ihr Plan. Tatsächlich war das unser taktischer Trick, der uns geholfen hat, all ihre Kräfte und Mittel hervorzulocken."
Tatsächlich gehört dieses Manöver zu den gängigsten Taktiken der Propaganda: Jeder Misserfolg oder Rückschlag wird als Teil eines großen ominösen Plans verkauft, der aber ganz im Sinne des Oberbefehlshabers im Kreml laufe.
Doch um ganz sicher zu sein, brachte Popow eine weitere bei der Propaganda beliebte Mär ins Spiel: Die russischen Truppen würden "sich einer riesigen Horde widersetzen, die im Westen vorbereitet" worden sei. Man kämpfe gar nicht gegen die Ukraine, sondern gegen die gesamte Nato. Nur deswegen sei es nichts aus den drei Tagen geworden, die anfänglich für die Eroberung Kiews angesetzt worden sind.
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Kampf gegen russische Telegramkanäle
Diese Taktik behielt die Propaganda für einige Tage bei. Auch Wladimir Solowjow, einer der prominentesten Gesichter der Kreml-Propaganda, forderte im Abendprogramm seine Zuschauer auf, sich keine Sorgen zu machen und die offizielle Stellungnahme des russischen Verteidigungsministeriums abzuwarten. "Eine militärische Spezialoperation ist ein harter Job. Unsere Helden tun, was sie können. Es ist nicht einfach", erinnerte er. Er sprach von einer "lokalen Offensive" der ukrainischen Streitkräfte, die "kokett über die schrecklichen Verluste in Balakleja" schweigen würden. Und Solowjow erinnerte sein Publikum daran, dass "Stalin zur Hinrichtung von Alarmisten aufgerufen hat". Eine deutliche Ansage in Richtung der russischen Telegramkanäle, die sonst so treu der Propaganda gedient haben, nun aber erschreckende Nachrichten von der Front verbreiteten.
"Einer der schlimmsten Tage an der Front für uns"
Als am 8. September Kiew sein Schweigen zur Entwicklung der Gegenoffensive brach und die Befreiung von 20 Siedlungen meldete, brach auch die Fassade der Propagandisten.
Auf dem Staatssender NTW begann am Abend die Polit-Show "Treffpunkt" (Mesto Wstretschi) mit Aufsehen erregenden Auftritten. "Seien wir ehrlich. Der gestrige Tag war seit dem Untergang des Kreuzers 'Moskau' einer der schlimmsten Tage an der Front für uns", eröffnete der Außenpolitik-Kommentator der Zeitung "Kommersant" Maxim Yusin seine Replik. "Die Situation ist sehr beängstigend." Der Moderator fuhr ihm umgehend ins Wort, versuchte ihn zu übertönen, doch Yusin fuhr fort. "Ich habe den Eindruck, dass wir auf kaltem Fuß erwischt wurden."
An dieser Stelle schalteten sich auch die anderen Gäste ein und schrien Yusin faktisch nieder. Die Ukrainer könnten "aus Scheiße Pralinen" machen, grätschte der Moderator. Die Gegenoffensive werde aufgebläht.
Und dennoch: Im nächsten Atemzug erläuterten die Talk-Gäste die Möglichkeit einer Einnahme der Krim durch ukrainische Streitkräfte. Vor ein paar Wochen war solch eine Option für die Propaganda schlicht undenkbar – und unsagbar.
"Für Russland gibt es keine nicht hinnehmbaren Verluste"
Den nächste Hammer legte ein gewisser Alexander Sytin hin, ein kremltreuer Politikwissenschaftler. Der kollektive Westen und die Ukraine "verstehen es absolut nicht, dass es für Russland keine nicht hinnehmbaren Verluste gibt. Es gibt sie einfach nicht! Deswegen kann der Krieg beliebig lange fortgeführt werden." Der Krieg werde auch in den Jahren 2023 und 2024 andauern. "Wie wird das enden? Ich glaube nicht an einen militärischen Sieg der Ukraine. Aber ebenso glaube ich nicht an einen politischen Sieg Russlands", erklärte er.
Ein militärischer Sieg Russlands sei hingegen "unumgänglich" – auch wenn man die Ukraine nicht ganz wird einverleiben können.
Vor allem die Aussage der "nicht hinnehmbaren Verluste", die für Russland nicht existieren würden, entsetzen russische Telegramkanäle und Blogger. Denn Sytin meinte nichts anderes, als dass Russland jegliche menschlichen Verluste hinnehmen werde – und das über Jahre hinweg.
Erstaunlich ist auch, dass Sytin auf einmal das Wort Krieg in den Mund nahm. In Russland werden derzeit Menschen für den Gebrauch dieses Wortes zu Gefängnisstrafen verurteilt.
"Betet für unsere Männer!"
Zur selben Zeit forderte man auf dem größten Sportsender des Landes Match TV die Bevölkerung dazu auf zu beten. "Aus Isjum erreichen uns ganz unterschiedliche Nachrichten. Es gibt keine offiziellen Informationen. Ich wollte nur sagen, dass alle die gläubig sind, für unsere Jungs beten sollten", erklärte der Moderator der Sendung mit dem Titel "Es gibt ein Thema" sichtlich mitgenommen und ratlos. "Es fehlen einem die Worte. Betet für unsere Männer, die dort sind! Der Sieg wird unbedingt der unsere sein", setzte er zum Schluss hinzu. Bei diesen Worten stand ihm Trauer statt Hoffnung ins Gesicht geschrieben.
Auf NTW griff man statt Gebeten zu einem anderen Mittel. Man könnte es als Schuldumwälzung bezeichnen. In der Freitag-Ausgabe der Sendung "Treffpunkt" legte der Politiker Boris Nadezhdin einen Auftritt hin, der im Kreml für zufriedenes Grinsen gesorgt haben dürfte. "Diejenigen, die Präsident Putin überzeugt haben, dass die Spezialoperation effektiv und kurz sein werde, dass wir keine Zivilisten attackieren würden, dass die Kadyrow-Kämpfer schnell für Ordnung sorgen würden – diese Menschen haben uns alle in die Irre geführt", so Nadezhdin. "Der Präsident saß ja nicht da und hat sich selbst überlegt, eine Sonderoperation zu starten. Jemand kam zu ihm und hat ihm erzählt, dass die Ukrainer aufgeben, auseinanderlaufen und alle nach Russland kommen werden."
Diese Taktik hat in Russland eine jahrhundertlange Tradition, zu der schon Iwan der Schreckliche oder Stalin griffen. Das Prinzip lautet: Die Bojaren sind böse, der Zar ist gut. Es sind immer die Beamten und Untergebenem, die die Schuld für alle Übel bekommen. Während das Oberhaupt trocken aus dem Wasser geht.
Doch was war der Nachtrag des Politikers, der das Publikum ins Grübeln bringen sollte? "Wir haben eine Grenze erreicht, wo man sagen muss: Es ist unmöglich, den Krieg mit den Ressourcen zu gewinnen, mit denen Russland gerade Krieg führt", setzte Nadezhdin hinzu. "Es sind Söldner oder die Wagner-Truppe, die da Krieg führen. Es gibt keine Mobilisierung."
Und er wiederholte die Optionen, vor denen Russland momentan stünde: "Entweder Mobilisierung und ein Krieg in all seiner Dimension – oder wir gehen getrennte Wege."
Hinweis: Dieser Artikel erschien zuerst bei stern.de.
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