Am Steilhang platzen die Olympia-Träume
Das herzzerreißende Slalom-Drama von Lena Dürr
Lena Dürr hat die Chance ihres Lebens. Beim olympischen Slalom führt die 30-Jährige nach Lauf eins und steht vor der Krönung einer durchwachsenen Karriere. Doch ein Zögern im Steilhang lässt alle Träume platzen. Am Ende fließen bei Deutschlands Topfahrerin nur noch Tränen.
Dürr weint bittere Tränen
Wenn eine irgendwie nachempfinden konnte, wie schlimm diese brutalen Momente im Zielraum für Lena Dürr sein müssen, dann war es Wendy Holdener. Trotz einer mittlerweile doch sehr üppigen Sammlung an Medaillen bei Weltmeisterschaften (drei) und Olympischen Spielen (nun vier) hat die Schweizerin in ihrer Karriere (zu) oft erfahren müssen, wie es ist, wenn man knapp scheitert. Mal am Sieg, mal auch am Stockerl. Dürr hat an diesem Mittwoch bei den Olympischen Spielen beides erlebt. Sie hat als Führende des ersten Durchgangs Gold (um 0,19 Sekunden), Silber (um 0,11 Sekunden) und Bronze (um 0,07 Sekunden) verpasst. Wimpernschläge, die sich wie Ewigkeiten anfühlen. "Tut mir leid", flüsterte die glückliche Holdener der knapp geschlagenen, der weinenden deutschen Slalomspezialistin zu. Die ganze Grausamkeit des Brettersports in einer Szene.
Alles zwischen Platz eins und drei wäre eine Sensation für die 30-Jährige gewesen. Platz vier immer noch ein herausragendes Ergebnis. Bei den Olympischen Spielen aber leider der prominenteste Rang der geplatzten Träume. Wo Dürr die entscheidenden Hundertstel verloren hatte? Kaum zu erkennen. Im Steilhang, da war sie nicht aggressiv, nicht mutig genug, klar. Aber ein gravierender Fehler? Ein fataler Rutscher? Der war nicht zu sehen. Womöglich hatte Dürr schon geahnt, dass es für den Gold-Coup die Fahrt ihres Lebens gebraucht hätte. Denn Petra Vlhova hatte gnadenlos vorgelegt. Die beste Slalomfahrerin des Winters hatte den immensen Frust über die Enttäuschung im Riesenslalom vor wenigen Tagen und Rang acht zur Halbzeit in pure Angriffslust und Energie transformiert. Auch wenn ihr Anzug silbern glänzte, schien sie die Goldlinie gefunden zu haben.
"Tut richtig weh"
Konkurrentin um Konkurrentin ließ die furiose Slowakin hinter sich. Um ihre ewige Rivalin Mikaela Shiffrin musste sie sich nicht mehr kümmern, die Amerikanerin hatte zum zweiten Mal binnen weniger Tage den Horror des frühen Ausscheidens erlebt. So also blieb nur noch der Showdown mit Dürr. Vlhova kniete sich im Zielbereich kauernd in den Schnee. Dürr legte los, war im oberen Abschnitt ein wenig schneller, baute die Differenz auf 0,78 Sekunden aus. Ein echtes Brett für die weitere Reise. Im mittleren Teil verlor die 30-Jährige zwar, hatte aber noch immer über eine halbe Sekunde Polster. Den finalen Steilhang eröffnete sie mit immer noch guten drei Zehntel Vorsprung - und dann das Drama. Die Zeit rann und rann, Vlhova flog vorbei, Katharina Liensberger aus Österreich und Wendy Holdener. Auf der Videowand brannte in aller olympischer Unbarmherzigkeit die "4" auf. Die schlimmste Zahl, die es für Sportler bei Großereignissen gibt.
Und so brach es auch aus Dürr aus. Noch auf ihren Brettern sackte ihr Körper nach vorne, unter der Brille flossen die Tränen. Einmal hob sie die Gläser kurz an, dann tauchten ihre verweinten Augen wieder in der gespiegelten Dunkelheit ab. Wenn man weit weg ist, fand sie, sie es leichter zu verarbeiten. "Wie sagt man so schön: Wenn's ein Weltcuprennen gewesen wäre, wäre das ein gutes Ergebnis. Aber so tut es richtig weh", sagte sie im ZDF. "Es war so knapp, ich habe echt gekämpft, aber die letzte Haarnadel bin ich echt nicht gut gefahren. Das ist sehr bitter, weil es wirklich knapp war, nicht nur auf eine Medaille, sondern sogar auf Gold."
Spätes Glück bleibt aus
Für Dürr wäre es das späte Glück einer durchwachsenen Karriere gewesen. Vor zehn Jahren galt sie als große Hoffnungsträgerin des deutschen Skisports. Eine, der wegen ihres herausragenden Gefühls für das Skifahren zugetraut wurde, Maria Höfl-Riesch und all die anderen DSV-Legenden zu beerben. Doch diesem Druck war sie augenscheinlich nie gewachsen. Gesegnet mit einem großartigen Talent, überzeugend im Training, verkrampfte sie regelmäßig im Wettkampf. Kein Mut, kein Selbstvertrauen - Ergebnisse weit weg von der Weltspitze. 2013 gewann sie in Moskau mal ein international eher wenig wertgeschätztes Parallelevent. Bei Weltmeisterschaften gab es zweimal Bronze im ebenfalls prestigearmen Teamevent. Aber sonst? Nichts. Viel Frust, kaum Jubel.
Dürr, ein Rätsel. Ein jahrelanges. Eine Lösung? Nicht in Sicht. Vor drei Jahren strich der DSV Dürr sogar aus dem Weltcup-Kader. Sie musste sich um alles selbst kümmern, selbst finanzieren, schloss sich einem internationalen Rennteam an. "Menschlich und von der Einstellung her", sagte Cheftrainer Jürgen Graller vor wenigen Wochen in Schladming, habe Dürr das geholfen. Nach einer starken Saison im vorolympische Winter kam nun rechtzeitig vor Peking der große Durchbruch. In sieben Slaloms war sie dreimal Dritte, je einmal Vierte und Fünfte. Ihre kleine Schwäche mit den Plätzen 18 und 11 über den Jahreswechsel ist wegen einer Erkrankung gut erklärbar. Dürr wirkte befreiter, entschlossener, mutiger. Was für eine späte Wende zum Guten.
Spiegelbild der Karriere
Warum es plötzlich Klick oder besser Boom machte, kann sie selbst nicht sagen. Der "Rheinischen Post" erklärte sie gerade erst: "Ich hatte eine gewisse Planlosigkeit, ich war zu unsicher. Das ist speziell im Slalom ein Problem, wenn man blitzschnell reagieren muss." Viele Trainer haben sich an und mit ihr versucht, sind verzweifelt. Nicht aber Georg Harzl, seit dem Frühjahr 2020 neuer Technikchef der Damen. Sein Plan ging auf. Vor allem mit Dürr. "Skifahren ist für mich ein Puzzle. Mehrere Teile müssen so zusammenpassen, dass man schnell fahren kann", sagt sie. "Mein Material ist super und gibt mir die große Freiheit, meinen Schwung so zu setzen, wie ich das will." Nach mehreren intensiven Trainings auf dem als äußerst knifflig geltenden Kunstschnee von Yanqing habe alles gepasst: Material, Form, Plan. Auch die Leistung, wie Harzl beurteilte: "Das war zu 90 Prozent gut, zehn Prozent waren nicht so gut." Zehn Prozent zu viel, wie der Sportinformationsdienst schreibt.
Hilde Gerg, 1998 Olympiasiegerin im Slalom, sah im ZDF "ein Spiegelbild" von Dürrs oft so bitter verlaufenden Karriere: "Einmal den Rhythmus verloren - das war's!" Die ganze Grausamkeit des Brettersports in einem Satz. (tno)