„Ich habe irgendwann nur noch getrunken, weil ich getrunken habe“

Nathalie war alkoholkrank: Der schleichende Weg in die Sucht

Nathalie Stüben
Nathalie Stüben lebt seit fünf Jahren nüchtern.
@beech

Alkoholprobleme bleiben oft lange unbemerkt

In unserer westlichen Welt gehört Alkohol fast schon zum Alltag – komplett darauf zu verzichten, ist für viele Menschen kaum vorstellbar. Dabei handelt es sich um eine Droge, die abhängig machen kann. Oft merken die Betroffenen nicht einmal, dass sie schon süchtig nach Alkohol sind. So ging es auch der Journalistin und Buchautorin Nathalie Stüben. Sie musste am eigenen Leib erfahren, wie sehr Alkohol das Leben zum Negativen verändern kann. Inzwischen lebt die 36-Jährige schon seit fünf Jahren abstinent. Ihre Geschichte hat sie in ihrem Buch „Ohne Alkohol: Die beste Entscheidung meines Lebens“* aufgearbeitet. Im Interview mit RTL-News.de erzählt Stüben, wie unbemerkt der Einstieg in die Sucht bei ihr abgelaufen ist, und wie sie den Absprung geschafft hat.

"Meine Abhängigkeit hat sich entwickelt"

Wann und wie haben Sie das erste Mal festgestellt, dass etwas nicht mit Ihrem Alkoholkonsum stimmt?
Nathalie Stüben:
„Am Anfang bedeutete Trinken für mich Genuss – zum Beispiel beim Essen. Ich habe mich dadurch kultiviert und erwachsen gefühlt. Dann wurde das so ein Party-Ding und irgendwann war das Trinken für mich die einzige Möglichkeit, überhaupt noch abschalten zu können. Das war aber erst am Schluss der Fall, als ich schon in diesem Teufelskreis drin gesteckt habe. Ich kann also gar nicht so richtig sagen, wann ich in die Sucht hinein gerutscht bin. Was ich schon ganz früh bemerkt habe ist, dass ich mehr vertrage als meine Freundinnen. Die Party konnte gern bis 8 Uhr morgens gehen, ich war dabei – wenn ich nicht vorher schon umgekippt bin. Ich hatte auch oft Blackouts. Als ich Mitte 20 war, dachte ich immer mal wieder, dass mein Konsum nicht normal ist. Ich fand kein Ende, wenn ich einmal angefangen hatte zu trinken. Ich konnte einfach immer weiter trinken. Ich dachte nie daran, jetzt doch mal auf Wasser umzusteigen. Der Kontrollverlust war aber ein Zeichen meiner Abhängigkeit, wie ich dann später erst herausgefunden hatte. Dass ich ein ernsthaftes Problem habe, habe ich aber erst relativ spät bemerkt. Meine Abhängigkeit hat sich entwickelt. Das ist eine Sache, die ich mit meinem Buch verdeutlichen möchte.“

Wollten Sie direkt mit dem Trinken aufhören, als Sie bemerkt hatten, dass sie ein Problem haben?
„Nein, auf gar keinen Fall. Ich habe erst angefangen zu googeln: Ab wann hat man ein Alkoholproblem? Wie viel Alkohol ist normal? Ich habe erst jahrelang nach Gründen gesucht, weshalb ich kein Alkoholproblem habe. Das ist auch ganz typisch, dass man sich das erst einmal nicht eingesteht. Man sucht immer wieder Ausreden, warum man jetzt kein Problem hat. Ich konnte mir zu dem Zeitpunkt einfach nicht vorstellen, ohne Alkohol zu leben. Das ging nicht in meinen Kopf rein, wie man das machen soll.“

Wie haben Sie es geschafft, trotz Ihres Alkoholproblems noch leistungsfähig im Job zu bleiben?
„Ich war ja Journalistin und hatte verschiedene Arbeitgeber. Ich wusste, wenn ich von Montag bis Samstag Schicht habe, kann ich mich Samstag abschießen, den Sonntag verschlafen und am Montag geht es weiter mit der Arbeit. Oder ich bin eben verkatert zur Arbeit gegangen. Da bin ich bei Weitem nicht die Einzige. Es gibt so viele, die verkatert zur Arbeit gehen. Wir haben immer den Eindruck, es fällt nicht auf aber es kann schon sein, dass der Kollege neben einem denkt ‘Die riecht aber nach Alkohol’ und nichts sagt. Solange du Leistung bringst, kannst du dieses Doppelleben führen, weil viel ignoriert und nichts gesagt wird. Ich habe viel gearbeitet, um irgendwie diesen Schein noch aufrechtzuerhalten, dass alles okay ist. Es ging ja auch darum, Geld zu verdienen. Bei einer Krankmeldung habe ich kein Geld verdient.“

Wie oft und wie viel haben Sie zu Ihrer schlimmsten Zeit getrunken?
„Ganz zuletzt habe ich mich alle drei bis vier Tage abgeschossen. Ich habe dann so viel und so lange getrunken, bis ich besinnungslos in der Ecke lag.“

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"Alkohol verändert unseren Körper und unsere Psyche"

Viele alkoholabhängige Menschen trinken aus negativen Gefühlen heraus. War das bei Ihnen der Fall?
„In meinem Fall war das nicht so. Bei mir sind dieser Stress, diese Ohnmacht und diese Selbstzweifel durch das Trinken überhaupt erst entstanden. Alkohol verändert unseren Körper und unsere Psyche so, dass wir mit der Zeit traurig, angespannt, zynisch und gestresst werden. Wir denken dann, wir müssen trinken, weil wir traurig oder gestresst sind, aber erkennen nicht, dass der Alkohol der Grund für diese negativen Gefühle ist. Natürlich nicht immer, denn es gibt ja auch Menschen, die trinken, weil sie Schmerzen haben, einsam, ängstlich oder traumatisiert sind. Ganz oft entstehen diese Gefühle aber erst, weil wir so oft und so regelmäßig trinken. Das war bei mir der Fall. Ich habe irgendwann nur noch getrunken, weil ich getrunken habe.“

Wann war der Punkt erreicht, an dem sie aufhören wollten zu trinken?
„Ich hatte so diesen einen letzten Morgen. Als ich aufgewacht bin, lag da wieder mal ein nackter Typ und mal wieder lag zerrissene Kleidung auf dem Boden. In dem Fall war das ein weißes, super schönes Sommerkleid. Ich konnte es aber nur noch wegwerfen. Ich hatte wieder einen höllischen Kater, Kopfschmerzen und es ging mir sehr schlecht. Ich konnte auch so viel Wasser trinken, wie ich wollte: Mein Durst wurde nicht gestillt. Und dann hatte ich auch noch Spätschicht an dem Tag von 16 bis 22 Uhr. Es war also ein schrecklicher Morgen, aber kein besonderer Morgen. Ich bin so oft neben fremden Typen wach geworden, an deren Namen ich mich nicht erinnern konnte und die ich nüchtern nicht einmal attraktiv fand. So oft bin ich wach geworden und wusste, dass es heute nur darum geht, diesen Tag jetzt irgendwie zu überstehen. Ich weiß nicht genau, was an diesem Morgen anders war, aber es war einer zu viel. Ich glaube, das war einfach der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Ich konnte es nicht mehr ertragen, so zu leben.“

Wie haben Sie es nach Ihrem Entschluss geschafft, dauerhaft nüchtern zu werden?
„Ich habe mich selbst immer noch nicht als klassische Alkoholikerin gesehen. Ich dachte ja, ein Alkoholiker ist man nur, wenn man schon morgens trinkt. Das war aber bei mir nicht so. Ich konnte locker ein paar Tage nicht trinken und habe nie mehrere Tage hintereinander getrunken. Ich habe auch nie gezittert oder Herzrasen, wenn ich den Alkohol wegließ. Deswegen kam es mir nicht in den Sinn, in eine Klinik zu gehen oder eine Suchtberatungsstelle aufzusuchen. Ich habe deswegen geschaut, was es für Bücher und Podcasts zu diesem Thema gibt. Ich wollte lernen, wie man nüchtern lebt. Deswegen habe ich mich in das Thema eingearbeitet. Ich fand damals ein paar amerikanische Podcasts, in denen andere Betroffene über ihre Alkoholsucht berichteten. In Deutschland gab es damals noch keine, da war meiner ja der erste. Das war der erste Schritt in Richtung Heilung, nämlich zu sehen, dass ich nicht alleine mit diesem Problem bin. Ich habe letztendlich ausprobiert, welche Methoden für mich funktionieren und welche nicht.“

"Der Alkohol sollte nicht meine Zukunft bestimmen"

Sie waren auch einmal bei den Anonymen Alkoholikern, haben aber bemerkt, dass Sie sich dort nicht wohl fühlen. Woran lag das?
„Zunächst einmal waren die Leute an diesem Abend unheimlich nett. An ihnen lag es also nicht. Ich fand es aber so deprimierend, dass da Menschen sitzen, die seit Jahrzehnten keinen Alkohol mehr trinken und sich immer noch als Alkoholiker bezeichnen. Ich wollte nicht mein Leben lang in diesen Meetings sitzen und mich Alkoholikerin nennen. Der Alkohol hatte mir schon so viele Jahre geraubt und sollte nicht auch noch meine Zukunft bestimmen.“

Was antworten Sie stattdessen, wenn Sie gefragt werden, warum Sie keinen Alkohol trinken?
„Ich sage heute, dass ich nicht mehr trinke, weil ich ein Alkoholproblem hatte. Ich sage, dass ich nüchtern lebe. Am Anfang habe ich natürlich darum herum geredet. Da habe ich gesagt, ich trinke nicht, weil es mir ohne besser geht oder weil ich morgen früh raus muss. Ich habe mich sehr lange für mein Problem geschämt, aber mittlerweile rede ich sehr offen darüber. Weil ich ja durch die amerikanischen Podcasts am eigenen Leib erfahren habe, wie wichtig es ist, dass wir unsere Geschichten erzählen.“

Seit Ihrer Entscheidung zur Abstinenz hatten Sie keinen einzigen Rückfall. Das gelingt vielen Betroffenen ja erst einmal nicht. Was ist Ihr Erfolgsgeheimnis?
„Was ich intuitiv richtig gemacht habe ist, dass ich die Abstinenz als etwas Positives betrachtet habe. Ich habe sie nicht mit Verzicht in Verbindung gebracht, sondern meinen Fokus darauf gelegt, dass es mir besser geht, wenn ich zukünftig nüchtern lebe. Ich hatte mich seit meinem Ausstieg schnell erholt und musste plötzlich nichts mehr verstecken. Ich hatte wieder Lust, Sport zu treiben, bekam mehr Kondition, hatte plötzlich Dates, bei denen ich nicht mehr mit Männern in eine Bar gegangen bin und mich abgeschossen habe, sondern Kunstausstellungen besucht habe oder Spazieren gegangen bin. Es war einfach so toll, wie mein Leben wieder an Details und Farbe gewann. Ich habe das Ganze einfach als Chance und riesigen Gewinn angesehen.“

Hatten Sie trotz allem auch Phasen oder Situationen, in denen Ihnen das nüchterne Leben schwer gefallen ist?
„Natürlich. Ich musste Cravings überstehen und lernen, wer ich ohne Alkohol eigentlich bin. Ich musste auch meine Freizeit anders gestalten. Das war am Anfang schon manchmal hart. Was soll ich abends machen, wenn ich nach einem stressigen Tag nach Hause komme und total geschafft bin? Das sind alles Dinge, die man lernen muss. Aber daran wächst man. Dadurch findet man zu sich. Schlussendlich ist das schön. Und das ist wohl auch das Neue, Moderne an meiner Herangehensweise. Ich betrachte ein Leben ohne Alkohol nicht als Leben zweiter Klasse, sondern als Gewinn. Welche Tricks und Strategien ich angewandt habe, um dorthin zu kommen, zeige ich in meinen Online-Programmen. Die richten sich an Menschen im Graubereich, die noch nicht körperlich abhängig sind. Wer Entzugssymptome bekommt, wenn er nicht trinkt, sollte sich an einen Arzt oder an eine Suchtberatungsstelle wenden.“

Was würden Sie jemandem raten, der jetzt vermutet, auch ein Alkoholproblem zu haben?
„Beschäftigen Sie sich mit dem Thema. Lesen Sie Bücher, hören Sie Podcasts, lesen Sie mein Buch. Fangen Sie an. Buch lesen ist ein erster Schritt. Vielleicht folgt dann der nächste. Eines steht jedenfalls fest: Sie sind nicht allein und Sie können es schaffen.“

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