Sie bringen die Rente und Lebensmittel in die Dörfer
Die Postboten als Lebensretter im Ukraine-Krieg
Der Krieg in der Ukraine hat das Leben vieler Menschen im Land teilweise grundlegend verändert. Lehrer, Maurer oder Rechtsanwälte kämpfen jetzt als Soldaten an der Front. Andere unterstützen als Freiwillige Zivilisten oder Soldaten mit Hilfsgütern. Und die Postboten? Die sind in den Frontgebieten im Osten für die Menschen zur Lebensader geworden. Ohne sie wird das Überleben dort fast unmöglich. RTL-Ukraine-Reporter Gordian Fritz hat die Postboten Liudmila und Igor auf ihrer wichtigen Mission begleitet. Die ganze Reportage im Video.
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Lebensgefährliche Fahrt im Schutz der Bäume
Liudmila ist seit 8 Jahren bei der Post in Bakhmut angestellt. Sie hat sich in den Jahren hochgearbeitet. Von der einfachen Postbotin zur Bezirkschefin. Doch jetzt sitzt sie wieder jeden Tag im Postauto und fährt mit Igor raus in die kleinen Dörfer rund um Bakhmut. Sie fahren so schnell sie können auf einer kleinen Schotterpiste. Immer im Schutz der Bäume. Vorbei an ukrainischen Panzern und Raketenwerfern während über ihren Köpfen immer wieder Granaten und Raketen fliegen. Es ist eine lebensgefährliche Fahrt, doch wenn sie es nicht riskieren, wären die Menschen in den Dörfern wohl verloren.
Nach knapp 30 Minuten erreichen sie Andriivka. Ein winziges Dorf. Kaum hat das gelb weiße Postauto gehalten verlassen die Menschen den Schutz ihrer Häuser und versammeln sich um das Fahrzeug. Liudmila sitzt auf dem Beifahrersitz, die Tür geöffnet und beginnt mit ihrer wichtigsten Aufgabe heute: Die Rente auszahlen. In der Ukraine wird das von der Post gemacht. Und in Friedenszeiten kommen viele Menschen dafür in die Filiale. Doch jetzt ist Krieg und so muss das Geld zu den Leuten kommen. Damit sie Lebensmittel kaufen können, ihre Gas und Wasserrechnung bezahlen können, damit sie überleben können.
Mini-Supermarkt im Postauto
Im Durchschnitt bekommt jeder 150 Euro im Monat. Es ist nicht viel, aber ohne die mutigen Postboten hätten sie gar nichts. Und während Liudmila vorne das Geld auszahlt, hat Fahrer Igor hinten die Türen geöffnet und gibt den Blick frei auf eine Art Mini-Supermarkt. Es gibt verschiedenste Lebensmittel. Wurst, Käse, Brot, aber auch Süßigkeiten. Und die Menschen aus Andriivka kaufen alles.
„Es gibt hier keine Geschäfte mehr. Alles hat geschlossen. Und nach Bakhmut können wir nicht. Zu weit und zu gefährlich“, sagt eine 70-jährige Einwohnerin. Ihr Nachbarin fängt an zu weinen und erzählt von den vielen Angriffen. Den Granaten und Raketen und wie froh sie sind, dass die Post weiter arbeitet. „Nicht alle sind bereit bei den Angriffen hier herzukommen. Doch sie machen das. Sie sind Helden für mich.“
Liudmila ist das etwas unangenehm. Wie so viele stille Helden in der Ukraine redet sie nicht gern über so etwas. „Wir machen nur unsere Arbeit. Jemand muss den Menschen doch helfen und es ist wichtig, dass sie ihr Geld und Lebensmittel bekommen.“
"Die Einheimischen brachten Leute für eine Rente auf einem Motorrad zu uns"
Liudmilas Chefin Anna beschreibt es so: „Natürlich freuen sich die Leute sehr, uns zu sehen, wenn wir kommen. Es ist kaum zu glauben, aber manchmal, wenn wir einige Dörfer besuchen, kommen Menschen aus Kellern und Unterkünften. Wir waren kürzlich im Dorf Vrubivka, wo die Leute überhaupt keine Kommunikation haben, es ist unmöglich, die Leute zu benachrichtigen, dass wir ankommen werden. Aber es gab Leute, die durch das Dorf gerannt sind und die Einheimischen informiert haben, dass das Postauto kommt die Einheimischen auf einem Motorrad brachten Leute für eine Rente zu uns. Sie erhielten dieses Geld, kauften sogar Waren von uns, blieben aber verwirrt, als ich sie fragte, warum sie verwirrt seien. Sie sagten, sie wüssten jetzt nicht, was sie mit dem Geld anfangen sollten. Sie haben dort keine Zivilisation, sie können nicht einmal dieses Geld irgendwo ausgeben. Sie haben nirgendwo Medikamente oder Lebensmittel zu kaufen. Natürlich bringen wir auch Lebensmittel und Lieferungen mit Medikamenten. Deshalb freuen sich die Leute jetzt wirklich, uns zu sehen. Wir bringen den Menschen ein Stück Zivilisation.“
Sie würden alle gern noch mehr helfen, aber sie sind nicht genug. Vor dem Krieg waren hier 8 Postautos im Einsatz, jetzt sind es noch drei. Alle anderen Fahrer sind mit ihren Familien geflohen. Deshalb arbeiten alle 7 Tage die Woche. Auch in der noch einzig verbliebenen Postfiliale von Bakhmut. Man könnte meinen, die Menschen hier hätten andere Sorgen, als Briefe und Pakete zu verschicken oder zu empfangen. Doch in der Filiale herrscht fast immer Hochbetrieb.
Hochbetrieb in der Postfiliale von Bakhmut
Olena will ein Paket abholen. Es sind Tapeten aus China. Sie hat sie im Internet bestellt und die Post hat sie tatsächlich bis hierher gebracht. „Unser Haus wurde von einer russischen Granate getroffen und schwer beschädigt, aber wir lassen uns nicht unterkriegen. Wir werden es jetzt reparieren und renovieren. Dafür habe ich die Tapete bestellt.“ sagt sie und lacht laut darüber, dass es für viele vielleicht verrückt klingt. Widerstand auf eine ganze andere Weise.
Zwei Männer dagegen wollen gerade ein Paket verschicken. Der rosa Stoffsack wird noch schnell in Folie eingepackt, dann liegt er schon am Schalter. „Es sind Dinge für unsere Verwandten im westlichen Teil. Sie sind vor Wochen geflohen und konnten nicht alles mitnehmen. Jetzt helfen wir ihnen“. Auch das ist die Ukraine in diesen Tagen.
Draußen in Andriivka ist fast alles verkauft. Igor und Liudmila packen ein und fahren ins nächste Dorf. Hier warten die Menschen schon seit dem frühen Morgen. Auch hier brauchen sie die Hilfe der Post. Auch hier zahlt Liudmila die Rente aus, während Igor die letzten Reste verkauft. Nur ein paar Sachen behält er zurück, denn nicht alle können zu den Treffpunkten kommen. Sie sind zu krank. Deshalb kommt die Post direkt zu ihnen. Der 80-jährige Victor bekommt sein Geld auf der alten Bank vor seinem Haus in die Hand gedrückt. Dazu die letzten Lebensmittel aus dem Postauto. Er ist krank, doch das hält ihn nicht davon ab vor den deutschen Journalisten über „den schlimmen Man im Kreml“ zu schimpfen.
Liudmila und Igor nehmen sich die Zeit und reden mit Victor. Auch das ist jetzt Teil ihrer Arbeit. Sie berichten über Neuigkeiten, hören sich die Sorgen, finden tröstende Worte. Und bei jedem Abschied schwingt die Ungewissheit mit, ob man sich nächste Woche noch wiedersehen wird. (aze)