Arroganz, Doping und Pech

Blamage in Tokio: Bizarrer Olympia-Fluch über US-Sprintern

Tokyo 2020 Olympics - Athletics - Men's 100m - Final - OLS - Olympic Stadium, Tokyo, Japan - August 1, 2021. Ronnie Baker in action REUTERS/Lucy Nicholson
Geschockt: Ronnie Baker.
CJB, REUTERS, LUCY NICHOLSON

Wenn es in Sprintstaffeln um Medaillen geht, dann sind die USA immer ein Favorit, meistens sogar der Top-Favorit. So viele schnelle Männer (und Frauen) hat das Land. Aber dieses Reservoir reicht manchmal nicht. Bei den Olympischen Spielen liefern die US-Boys ein bizarres Schauspiel.

Das Drama beginnt schon vorher

TOKYO, JAPAN - AUGUST 05: Trayvon Bromell of Team United States looks on prior to competing in round one of the Men's 4 x 100m Relay heats on day thirteen of the Tokyo 2020 Olympic Games at Olympic Stadium on August 05, 2021 in Tokyo, Japan. (Photo by Christian Petersen/Getty Images)
Läuft nicht für Trayvon Bromell.
PK / KCM, Getty Images, Bongarts

In diesem Jahr gab es über 100 Meter nur 16 Männer, die schneller waren als Cravon Gillespie. Wenn man also behauptet, dass Cravon Gillespie zu den schnellsten Männern der Welt zählt, dann ist das sicher keine sonderlich streitbare These. Eine Sache ist aber sehr interessant: Von den 16 Männern, die in diesem Jahr noch schneller waren als der Amerikaner, sind neun ebenfalls Amerikaner. Was dann wiederum bedeutet: In seiner Heimat ist der 25-Jährige ein Topsprinter unter vielen. Unter den Besten zwar, aber eben nicht unter den Allerbesten. Die werden bei den Trials auserwählt. Nun war Cravon Gillespie dennoch bei den Olympischen Spielen dabei. Als Mann für die 4x100-Meter-Staffel. Im Halbfinale war er Schlussläufer.

Und als letzter Mann seines Teams brachte er ins Ziel, was zur nationalen Peinlichkeit wurde. Die US-Boys wurden in ihrem Lauf nur Sechster. Sechster! Die Vereinigten Staaten, diese Nation der großen (der häufig gedopten) Sprinter, hat sich blamiert. Und das nicht nur wegen Gillespie, der auf der Zielgeraden erst losrannte, als hätte er es mit dem Teufel zu tun, und dann vom zwischenzeitlich zweiten noch auf den drittletzten Platz zurückfiel. Er war sogar noch von Lucas Ansah-Peprah überholt worden, einem jungen Deutschen, der seine Staffel mit einem furiosen Finish ins Finale rettete (über die Zeit). Die Bilder, die die internationale Regie direkt nach dem Lauf zeigte, sie beschäftigten sich nur ganz kurz mit jubelnden Deutschen und mit jubelnden Chinesen. Die hatten den Vorlauf überraschend gewonnen.

Die Bilder, die die internationale Regie zeigte, sie beschäftigten sich mit den arg fassungslosen US-Boys. Peinlich gescheiterte Superstars, das bedient eben den Drama-Voyeurismus des Publikums. Und das Leiden der Läufer, das war das Leiden der Besten. Denn die Amerikaner hatten ihr Spitzenpersonal in der Runde vor dem Finale nicht geschont. Was sonst ja immer wieder mal vorkommt. Trayvon Bromell war die ersten 100 Meter angegangen, er hatte den Stab an Fred Kerley übergeben, der im Sprintfinale bereits Silber gewonnen hatte. Es folgte Ronnie Baker, der immerhin fünftschnellste Mann des Jahres. Und schließlich Gillespie, der so eigenartig eingebrochen war. Aber es wurde ihm auch schwer gemacht. Er durfte erst als Sechster auf die Zielgeraden. Unvorstellbar für eine Staffel, die auf den ersten drei Positionen so überragend aufgestellt war.

Gehörige Arroganz gegenüber des Wettbewerbs

Das Drama hatte bereits viel früher auf der ultraschnellen Mondo-Bahn begonnen. Bromell, der im Einzel überraschend im Halbfinale gescheitert war, quälte sich auch in der Staffel. Immerhin klappte seine Übergabe auf Kerley. Der formstärkste US-Boy legte eine starke Gerade hin, war dann aber doch die tragische Figur. Er lief viel zu dicht auf Baker auf. Dessen Hand suchte den Stab dann an völlig falscher Stelle. Seine Hand grabbelte irgendwo am Hals seines Kollegen rum. Kerley schnappte sich den Arm von Baker und drückte ihm den wichtigsten Gegenstand des Laufs in die Hand. Wichtige Hundertstel gingen verloren, Baker konnte erst viel zu spät so beschleunigen, wie er es wollte. Ein surreales Schauspiel. Die amerikanische Naivität, sie wurde bitter bestraft. Nicht das Team mit den schnellsten Jungs machte das Rennen, sondern das Team, das auch als Team funktionierte.

Es wurden Fragen gestellt. Viele Fragen. Die am häufigsten formulierte, lautete so: Wie viele Male man denn wohl Staffel trainiert habe? "Weiß nicht", eierte Kerley rum. Baker sagte: "Nicht viele." Für erschreckende Aufklärung sorgte Gillespie. Zwei Tage habe man trainiert. Andere Nationen machen aus der Staffel (erfolgreich) eine Wissenschaft. Einfach in die Qualität der Einzelsprinter zu vertrauen, das ist schon auch eine gehörige Arroganz gegenüber des Wettbewerbs. In den USA wurde die Blamage zum großen Thema.

Ganz besonders empörte sich der legendäre Carl Lewis, der selbst sechsmal olympisches Gold im Sprint (100 Meter, 200 Meter und Staffel) gewonnen hatte. "Sie haben alles falsch gemacht. Die Übergaben waren falsch, die Reihenfolge der Läufer war falsch, und es gab keine Führungsstruktur", twitterte er wütend. Tatsächlich muss man hinterfragen, warum die beiden 100-Meter-Spezialisten Bromell und Baker die Kurven laufen mussten, für die es eine besondere Technik braucht. Kerley, eigentlich ausgebildete Fachkraft über 400 Meter, und Gillespie (über 200 Meter und 20 Sekunden unterwegs), hätten ihre Expertise viel gewinnbringender einbringen können.

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"... und dann sehen sie diese Clown-Show"

Und dann legte Lewis noch mal nach: "Amerika sitzt da und feuert sie an und dann sehen sie diese Clown-Show", schimpfte der mittlerweile 60-Jährige im Gespräch mit der "USA Today". Die stolze Sprintnation, sie verlässt Tokio ohne Olympiasieg in den Distanzen bis einschließlich 400 Meter. Selbst Silber für Kerley über 100 Meter sowie Silber und Bronze für Kenny Bednarek und Noah Lyles über 200 Meter sind da kein Trost für das gleichermaßen empörte wie resignierte Kollektiv.

Einst war gerade die Staffel ein fest eingeplantes Gold. Bis zum Jahr 2000 ging der Olympiasieg 15 Mal an die US-Boys, bei 20 Austragungen. Seither geht nichts mehr. 2004 gab es Silber, 2008 verpasste Schlussläufer Tyson Gay den Stab, 2012 wurde Silber nachträglich aberkannt, wegen eines Dopingvergehens von Gay. Und 2016 wurde die Staffel wegen eines Wechselfehlers disqualifiziert. "Das perfekte Timing mit ein paar Übungen zu versuchen, ist ein bisschen schwierig", versuchte sich Baker nun an einer Begründung für das nächste Desaster. Tatsächlich ist es das zehnte Mal seit 1995, dass die US-Staffel bei Großereignissen mögliche Siege verschenkt hat. Entweder aufgrund eines verlorenen Staffelstabs, eines Dopingverstoßes oder eines fehlerhaften Wechsels. Immerhin: Bei der vergangenen WM 2019 in Doha, da gab es Gold. Eines mit Geschmäckle allerdings. Denn in der Staffel liefen Justin Gatlin und Christian Coleman mit, zwei zwielichtige Gestalten der US-Sprintszene. (tno)