Diskussion nach Armuts-Studie
Ab wann gilt man in Deutschland als arm oder zählt zu den Geringverdienern?
von Aristotelis Zervos
Eine aktuelle Studie der Bertelsmann-Stiftung zeichnet ein Bild, über das sich Deutschland eigentlich schämen sollte: Mehr als jedes fünfte Kind und jeder vierte junge Erwachsene in Deutschland sind laut der Studie armutsgefährdet. Besonders betroffen: Kinder von Alleinerziehenden oder Kinder, die mit vielen Geschwistern aufwachsen. Aber ab wann gilt man in Deutschland als arm und wer zählt zu den Geringverdienern?
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Geringverdiener: Fast jeder fünfte Arbeitnehmer gehört dazu
Die Bundesregierung lieferte bereits vor einiger Zeit auf eine Anfrage der Partei „Die Linke“ eine Definition, die zunächst sehr technisch klingt: Als Geringverdiener gelten Arbeitnehmer, die als sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigte weniger als zwei Drittel des Mediangehalts aller Vollzeitbeschäftigten in Deutschland verdienen. Es ist also ein rein statistischer Wert, der sich jedes Jahr verändert und mit Zahlen gefüllt werden kann.
Laut einer Studie des gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, die im Januar 2022 veröffentlicht wurde, sind fast ein Fünftel aller Vollzeitbeschäftigten in Deutschland Geringverdiener. Sie müssen mit einem Bruttoarbeitsentgelt unter 2.284 Euro im Monat über die Runden kommen.
Überdurchschnittlich häufig müssen laut der Studie Frauen, junge Vollzeitbeschäftigte, solche mit ausländischer Staatsangehörigkeit und Personen ohne Berufsabschluss mit geringen Löhnen auskommen. Nach wie vor ist außerdem der Anteil der Geringverdiener in Ostdeutschland deutlich höher als im Westen.
Ab wann gilt man in Deutschland als arm?
Problematischer wird es, bei Familien festzustellen, ob sie zu den einkommensschwachen gehören. Denn hierzu gibt es laut dem Statistischen Bundesamt keine klare Definition. Als einkommensschwach werden Personen definiert, die Zuschlag zum Kindergeld (KiZ), Bürgergeld (ehemals Hartz IV) oder Leistung für Bildung und Teilhabe (BuT) beziehen.
Eine einheitliche Einkommensgröße als Unterscheidungskriterium, ob eine Familie als einkommensschwach gilt oder nicht, wird nicht verwendet.
Daneben gibt es in der Wissenschaft die „relative Einkommensarmutsgefährdung“: Kinder und Jugendliche gelten als armutsgefährdet, wenn sie in Haushalten leben, deren Einkommen weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens aller Haushalte beträgt.
Menschen, die ein Einkommen (inklusive Transferleistungen wie Bürgergeld) unter diesen Schwellen beziehen, gelten in Deutschland als armutsgefährdet. Die Armutsgefährdungsschwellen für das Jahr 2021 für verschiedene Haushaltstypen hat die Bertelsmann Stiftung in einer Tabelle zusammengestellt:
Haushaltstyp | Armutsgefährdungsschwelle |
---|---|
Ein-Personen-Haushalt | 1.148 Euro |
Paar-Haushalt | 1.721 Euro |
Paar-Haushalt mit einem Kind unter 14 Jahren | 2.066 Euro |
Paar-Haushalt mit zwei Kindern unter 14 Jahren | 2.410 Euro |
Paar-Haushalt mit drei Kindern (zwei unter, eins über 14 Jahren) | 2.984 Euro |
Alleinerziehende mit einem Kind unter 14 Jahren | 1.492 Euro |
Alleinerziehende mit zwei Kindern unter 14 Jahren | 1.836 Euro |
Alleinerziehende mit drei Kindern (zwei unter, eins über 14 Jahren) | 2.410 Euro |
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Mittleres Brutto-Einkommen aller Berufe
Das mittlere Einkommen ist die Einkommenshöhe, von der aus gesehen genauso viele Haushalte ein niedrigeres wie ein höheres Einkommen haben. Dieser Wert wird auch Medianwert genannt.
Wie die Bundesagentur für Arbeit ausgerechnet hat, lag das Median-Bruttoentgelt aller sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten im vergangenen Jahr (2021) bei 3.516 Euro.
Während das Medianentgelt der Männer bei 3.649 Euro liegt, erzielen Frauen 3.276 Euro. Die Differenz liegt demnach bei 373 Euro und hat sich im Vergleich zum Jahr 2020 um 21 Euro verringert. Im Jahr 2017 unterschieden sich die Löhne und Gehälter noch um 452 Euro.
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Es gibt aber auch regionale Unterschiede: Die höchsten Medianentgelte erzielen Vollzeitbeschäftigte in Hamburg (3.962 Euro), Baden-Württemberg (3.843 Euro) und Hessen (3.799 Euro). In Mecklenburg-Vorpommern (2.785 Euro), Thüringen (2.807 Euro) und Sachsen-Anhalt (2.855 Euro) liegt der Median am niedrigsten.
Wer gehört zur Mittelschicht?
Die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) definiert die Mittelschicht ebenfalls über das Gehalt. Ein Haushalt wird zur Mittelschicht gezählt, wenn er monatlich 75 bis 200 Prozent des mittleren Nettoeinkommens in seiner Region zur Verfügung hat.
Eine Studie der Bertelsmann Stiftung hat die verfügbaren Daten aus dem Jahr 2018 analysiert. Das verfügbare Nettoeinkommen für die Mittelschicht liegt dabei zwischen 1.500 und 4.000 Euro für Singles und zwischen 3.000 und 8.000 Euro für Familien.
Singles | Familien | |
Untere Einkommensschicht | 1.500 Euro | 3.000 Euro |
Untere Mittelschicht | 2.000 Euro | 4.000 Euro |
Mittlere Mittelschicht | 3.000 Euro | 6.000 Euro |
Obere Mittelschicht | 4.000 Euro | 8.000 Euro |
Obere Einkommensschicht | über 4.000 Euro | über 8.000 Euro |
Der Paritätische Wohlfahrtsverband geht wegen der aktuellen Zahlen auf die Barrikaden. Es sei ein Skandal, dass in einem Land mit der weltweit viertstärksten Wirtschaftskraft mehr als jedes fünfte Kind in Armut lebe – und fordert eine sofortige Anhebung der Grundsicherungsleistungen um mindestens 200 Euro im Monat. Doch dann müsste man auch den Mindestlohn für Geringverdiener weiter anheben – damit sich Arbeit auch wirklich noch lohnt. (mit dpa)