Wer nicht im Heim lebt, fällt durchs Raster

Behinderte Menschen: Bei der Corona-Impfung vergessen?

von Lothar Keller

Ältere Menschen sind durch Covid19 besonders gefährdet - aber nicht nur sie. Eine andere Gruppe, für die eine Infektion schnell tödlich enden kann, wird bis jetzt übersehen: Behinderte, die nicht in Heimen untergebracht sind. Ausgerechnet diejenigen, die gegen viele Widerstände selbständig leben, studieren und arbeiten, werden nicht geschützt.

+++ Alle aktuellen Infos zum Corona-Virus jederzeit im Liveticker +++

Die Hoffnung auf ein normales Leben

Victoria Michel hat in ihrem Leben bislang nichts aufhalten können – sie hat ein sehr gutes Abitur gemacht, ihr Studium fast abgeschlossen, sie war ein halbes Jahr in Schweden. Doch wegen der Corona-Epidemie hat die 28jährige seit Oktober ihre Wohnung kaum verlassen. Victoria hat eine Muskelerkrankung, die Lunge ist schwach, schon eine normale Erkältung kann bei ihr zu einer lebensgefährlichen Lungenentzündung führen. Umso größer war ihre Hoffnung, als sie im Winter vom Beginn der Corona-Impfungen hörte: „Ich habe wieder auf mehr Normalität gehofft. Als Behinderte sind wir in vielen Situationen an den Rand gedrängt. Das hat sich durch Corona verschärft. Ich habe gehofft, wieder mehr am normalen Leben teilnehmen zu können.“

Wer besonders aktiv ist, wird besonders behindert

AstraZeneca? Gerne!
Niemand konnte Victoria Michel bisher sagen, wann sie geimpft wird. Dabei würde sie sich zu gerne eine der AstraZeneca-Dosen spritzen lassen, die andere nicht haben wollen.
Keller, Lothar [infoNetwork], RTL

Obwohl sie wenig mehr als die Finger ihrer Hände bewegen kann, lebt Victoria in ihrer eigenen Wohnung, unterstützt von Assistentinnen. Und gerade das wird jetzt zum Problem. Denn nur behinderte Menschen in Heimen werden bereits geimpft – dagegen fallen viele, die sich ein selbständiges Leben erkämpft haben, derzeit durchs Raster. Seltene Erkrankungen wie Victorias Muskelerkrankung werden vom Impfplan nicht erfasst. Also gibt es keinen Impftermin, weder für sie, noch für ihre Assistentinnen. „Das ist paradox“, sagt Victoria, „je aktiver man als Mensch mit Behinderung ist, desto mehr Steine werden einem in den Weg gelegt.“

Dabei fordert die Ständige Impfkommission ausdrücklich, dass jene zuerst geimpft werden sollen, die ein besonders hohes Risiko für einen schweren oder tödlichen Verlauf einer Covid19-Erkrankung aufweisen. Und das sind nicht nur die Älteren.

Anzeige:

Empfehlungen unserer Partner

Behinderte werden nicht zum ersten Mal in der Pandemie vergessen

Muffins backen im Lockdown
Mehrere Assistentinnen unterstützen Victoria Michel. Doch auch sie sind nicht geimpft und damit ein Risiko.
Keller, Lothar [infoNetwork], RTL

Raul Krauthausen kämpft seit Jahren für die Rechte behinderter Menschen und für Inklusion, also darum, dass behinderte Menschen so weit wie möglich ein normales gesellschaftliches Leben führen können. Auch Krauthausen gehört wegen seiner Glasknochenkrankheit zur Hochrisikogruppe – und wird nicht geimpft. „Wir wurden bei den Masken vergessen, bei den Tests, und jetzt bei den Impfungen“, empört sich der Aktivist, „ich bin geneigt, von Boshaftigkeit zu sprechen, wenn Menschen mit Behinderung zum wiederholten Mal vergessen werden.“

Victoria Michel und Raul Krauthausen gönnen jedem die Impfung, der einen Termin bekommt, auch den Lehrerinnen und Lehrern, Erziehern und Polizisten, die jetzt vorgezogen werden. „Ich will keinen Opfer-Wettbewerb“, sagt Raul Krauthausen, „aber es ist schwierig, wenn es eine Art Überholspur gibt, und Menschen mit Behinderung auf dem Parkstreifen stehen gelassen werden.“

Zumal jetzt reichlich Impfstoff da ist. Das Präparat von AstraZeneca wird von vielen abgelehnt, die schon geimpft werden könnten. Die nicht verbrauchten Impfdosen liegen in den Kühlschränken. „Gibt es schon Tauschbörsen für AstraZeneca-Termine, die frei wurden, weil angeblich niemand die Plörre will? Ich würde sie nehmen“, twittert Raul Krauthausen.

Victoria Michel hat die Impf-Hotline angerufen, das Impfzentrum und das Gesundheitsamt. Niemand konnte ihr bislang sagen, wann sie geimpft werden kann. „Wenn ich sage, dass ich eine Muskelerkrankung habe, dann weiß keiner, was Sache ist, weil der Staat es nicht geregelt hat.

Impfung nach Einzelfall-Entscheidung?

In Nordrhein-Westfalen hat die Landesregierung jetzt entschieden, dass Menschen die von der Impfverordnung bislang nicht erfasst werden, künftig Einzelfall-Entscheidungen beantragen können. Ein Lichtblick – auch wenn die Betroffenen mit solchen Regeln bislang kleine guten Erfahrungen gemacht haben. Sie müssen ein Attest besorgen, einen Antrag stellen und hoffen, dass er genehmigt wird – niemand sonst muss das für einen Impftermin auf sich nehmen. Einige behinderte Menschen haben bereits erfolgreich eine Impfung eingeklagt. „Das kann doch nicht sein“, sagt Victoria, „dass man vor Gericht gehen muss, um lebensnotwendige Hilfe zu bekommen.“

An diesem Montag beginnt Victoria in ihrem neuen Job. Sie unterstützt behinderte junge Menschen im Studium und berät Universitäten, was sie für bessere Inklusion tun können. Nicht alles kann sie im Homeoffice erledigen, und sie fährt nicht ohne Sorge in ihr neues Büro. Ohne Impfung ist jeder Kontakt mit anderen Menschen ein Risiko. Aber das kennt Victoria schon - bei dem Versuch, ihr eigenes Leben zu leben, haben solche Umstände sie immer schon mehr behindert als ihre körperlichen Einschränkungen.