Wembley wird der Schicksalsort
Rooooaar - das lauteste Brüllen der EM, England ist heiß auf die Titel-Erlösung
Über Joachim Löw hat man solche Sätze schon lange nicht mehr gehört. Hat man sie überhaupt jemals über ihn gehört? Vermutlich schon, vermutlich hat nach dem WM-Triumph 2014 in Brasilien auch mal jemand über Löw gesagt, dass er viele richtige Entscheidungen getroffen hat. Sollte das nicht der Fall gewesen sein, holen wir das nun für das Kollektiv nach. Aber um Joachim Löw geht es nicht mehr. Seine Zeit als Bundestrainer ist vorbei. Im EM-Achtelfinale gegen England (0:2) war er zum letzten Mal verantwortlich für die Nationalmannschaft. Er hatte viele Entscheidungen getroffen, die sich nachträglich als nicht richtig erwiesen – taktisch, personell. Ganz anders steht es um Gareth Southgate.
Schicksalsmann am Schicksalsort
Der ist Trainer der Engländer und im Land eine äußerst tragische Figur. Sein dramatisch verschossener Elfmeter im EM-Halbfinale 1996 gegen Deutschland (Andreas Köpke hatte den schwachen Schuss pariert) zerstörte den Traum der "Three Lions" erstmals nach 30 Jahren, erstmals nach dem WM-Triumph 1966 in Wembley, wieder einen großen Titel zu gewinnen. Nun, 55 Jahre später, bietet sich womöglich die nächste Chance. Nach einem rauschhaften Erfolg im Viertelfinale gegen die Ukraine fehlen den "Three Lions" noch zwei Siege zum EM-Erfolg. Der Schicksalsort wird wieder Wembley, wo 1966 gefeiert und 1996 geweint wurde (damals noch im alten Stadion). Der Schicksalsmann wird Southgate.
Tatsächlich hat sich das Land mit seinem tragischen Helden längst versöhnt. Vor drei Jahren hatte er sein Team bei der WM in Russland bereits ins Halbfinale geführt. Die Fans hatten ihn besungen. Sie hatten einen Klassiker der Liverpooler Girlband Atomic Kitten auf ihn umgedichtet. Und auch nun singen sie wieder. Und hoffen. Sie hoffen darauf, dass ihr Trainer wieder und weiter die richtigen Entscheidungen trifft, wie Alan Shearer urteilte. Der Stürmer ist mittlerweile Experte bei der BBC und war 1996 Teil des gescheiterten Ensembles. "Wieder hat alles perfekt funktioniert", lobte der 50-Jährige seinen ehemaligen Mitspieler. Er ist damit übrigens nicht der Einzige. Auch Legenden wie Gary Lineker und Paul Gascoigne schwärmen von Southgate und dessen Mut.
Southgate: Großartige Gelegenheit auf Finale
Auch mal alle Top-Talente auf der Bank
Gegen Deutschland setzte der Trainer voll auf Stabilität. Freunde des gepflegten Angriffsfußballs bekamen beim Blick auf die Startaufstellung und die Ersatzbank direkt Wut-Puls. Die Hochbegabten Phil Foden, Jadon Sancho, Marcus Rashford und Mason Mount auf der Bank zu lassen, das muss man sich erstmal trauen. Denn man kann sich nur in Ansätzen vorstellen, was passiert wäre, wenn der Plan nicht aufgegangen wäre. Er ist aufgegangen. England konnte sich vorne auf die herausragenden Momenten von Raheem Sterling und Harry Kane verlassen. Und später noch auf die des eingewechselten Jack Grealish. Ansonsten war das solides Handwerk. Nicht die Weise, die einem gemeinhin die Herzchen zufliegen lässt. Aber England hat Bock auf den Titel. That's it.
Gegen die Ukraine nun war's ganz anders. Southgate stellte offensiv auf. Neben Sterling, dem besten Spieler der Engländer im Turnier, und Kane bot er auch Mount auf. Und Sancho. Ja, Sancho. Den kennt man in Deutschland als fantastischen Fußballer. Mit Borussia Dortmund hat er für großartige Momente gesorgt. Nun wechselt er für 85 Millionen Euro zu Manchester United. Bitter für die Bundesliga, bitter für den BVB, aber vermutlich eine gute Investition für die wiedererstarkten "Red Devils". Durchaus kurios: dieses dribbelstarke Supertalent kam in den ersten vier Spielen der EM auf sechs Minuten! Ein Witz. Aber eben Teil von Southgates Plänen. Er brauchte ihn bislang nicht. Gegen die Osteuropäer kam er rein. Sancho hatte gute Momente, keine sensationellen. Aber er half dabei, die Mannschaft von Andrij Schewtschenko zu beeindruckend. Sie fast schon einzuschüchtern.
Freund erwartet Finale Italien gegen England
"Teams müssen Schmerz durchmachen"
Es war wirklich bemerkenswert, wie die Engländer immer wieder den Druck erhöhten, wenn es nötig war. Sie begnügten sich aber auch oft genug damit, das Spiel einfach nur unter Kontrolle zu halten, wenig bis keine Gefahr zuzulassen. Eine Art Beamtenfußball mit wuchtigen Eskalationen. Die Ukrainer brachte zwei Schüsse aufs Tor von Jordan Pickford, der allerdings nicht alles auspacken musste, um seine Turnier-Null zu halten. Nach fünf Spielen haben die "three lions" noch immer kein Gegentor kassiert. Das hat es in der EM-Geschichte noch nie gegeben. Wir erinnern uns kurz: Offense wins games but defense wins championships. Oft genug bewiesen. Übrigens eine gute Nachricht: Nach dem Spiel sprach niemand über Felix Brych. Die Ansetzung eines deutschen Schiedsrichters für die Partie hatte für große Empörung gesorgt. Die "Sun" pöbelte etwa laut: "Oh no,! The ref's a german". Tatsächlich erkennte Brych nur eine Abseitsstellung falsch. Sie war indes nicht wichtig.
Die Engländer kehren nun im Halbfinale am Mittwoch gegen Dänemark in ihr Wohnzimmer zurück. "Unser Weg ist noch nicht zu Ende. Das Beste kommt noch", sagte Abwehrchef Harry Maguire, der direkt nach der Pause das 2:0 gegen die Ukraine erzielt hatte. Kapitän Kane, der nach schwacher Vorrunde plötzlich wieder abgezockter Torjöger ist, wähnt England "auf dem richtigen Weg". Noch aber habe man nichts erreicht. "Wir müssen Schritt für Schritt weitermachen. Auf uns wartet ein sehr starker Gegner." Die Partie in Wembley vor 60.000 Zuschauern werde "ein unglaublicher Moment für uns als Team, aber auch für die ganze Nation. Es ist eine tolle Gelegenheit. Ich hoffe, dass wir die Stimmung, die Emotionen nutzen können. Wir wollen alle stolz machen und dieses Spiel gewinnen." Das Déjà-vu mit dem Halbfinal-Kater wollen die Löwen unbedingt vermeiden.
Helfen sollen ihn dabei ausgerechnet die Erfahrung aus dem Knockout gegen Kroatien vor drei Jahren. "Wer damals dabei war, der weiß, wie weh es tat, nicht ins Finale zu kommen", erinnert sich Kane. Coach Southgate sagt: "Teams müssen auf eine Reise gehen und Schmerz durchmachen, um sich weiterzuentwickeln. Wir hatten großartige Nächte, aber auch schmerzhafte Nächte, und wir haben daraus gelernt." Football is nun womöglich tatsächlich endlich coming home! (tno)