Misshandlungen statt Hilfe in KinderkurheimenEhemaliges Verschickungskind erzählt: Ich wurde mehrmals am Tag mit dem Stock geschlagen

Sie wurden geschlagen, misshandelt, mussten ihr eigenes Erbrochenes essen – es sind die erschütternden Berichte sogenannter Verschickungskinder der 40er bis 80er Jahre. Ohne ihre Eltern kamen sie wegen angeblicher Erkrankungen in Kinderkurheime von Krankenkassen und anderen Institutionen – doch anstatt ihnen zu helfen, wurden sie misshandelt. Schätzungsweise sechs bis zwölf Millionen Kinder sollen es gewesen sein, viele von ihnen kamen in Heime nach Schleswig-Holstein. Eines dieser Verschickungskinder ist der damals zehnjährige Rolf Peters. Sein großer Wunsch: Die Wahrheit ans Licht bringen.
Lese-Tipp: Kinder sind noch immer Missbrauchs-Opfer. Diese Regeln schützen Kinder im Internet
Verschickungskinder auf Amrum: Mit dem Weidestock verprügelt
Obwohl es knapp 70 Jahre her ist, wird Rolf Peters nie vergessen, was er 1954 in einem Erholungskinderheim vom „Deutschen Roten Kreuz“ in Wittdün auf Amrum (Schleswig-Holstein) erleben musste. „Was mir passiert ist, hat mich eigentlich ein Leben lang verfolgt“, erzählt Peters im Gespräch mit RTL. „Ich hatte Angst, ich hatte wirklich Angst.“ Weiter sagt er: „Ich habe schlechtes Essen bekommen, ich habe Kaffee Muckefuck mit Salzwasser bekommen und wurde mit dem Weidestock verprügelt.“ Und: „Drei- bis viermal am Tag mit einem Weidestock. Da musste ich mich immer mit dem Kopf an die Wand stellen. Dann bin ich von hinten verprügelt worden.“
Grund für seine Verschickung: Schlechte Gesundheit
Das alles nur, weil er ein uneheliches Kind und bei schlechter Gesundheit war. Er sollte raus aus seinem Elternhaus – in eine vermeintlich sichere Umgebung. Peters erinnert sich im RTL-Interview an einen weiteren, für ihn besonders belastenden Vorfall: „Die Leiterin ist auf mich zugekommen, hat mich in ihr Zimmer geholt, die Tür verschlossen - dann musste ich mich ausziehen. Sie hat zuerst meine Ohren angeguckt und hat gesagt: ,Da ist wohl kein Jude bei gewesen’. Dann hat sie meine Arme angeschaut und hat gesagt: ,Die sind ja krumm und schief’. Ich gehöre nicht zur arischen Rasse. Man habe vergessen, mich zu vergasen."
Das DRK hat sich entschuldigt
Rolf Peters kämpft vor vielen Jahren als einer der Ersten für Aufklärung. „Ich habe immer nur das Gefühl gehabt, die wollten das vertuschen, damit das nicht an die Öffentlichkeit kommt“, so Peters. „Das Rote Kreuz hat sogar behauptet, ich wäre eventuell gar nicht auf Amrum gewesen, das hätte ich mir nur ausgedacht.“ Damit er schweigt, sollen ihm seiner Aussage nach sogar 10.000 Mark geboten worden sein, die er nicht angenommen habe.
Diesen Vorwurf weist der DRK-Landesverband Schleswig-Holstein von sich, hat jedoch begonnen, die Vorfälle aufzuarbeiten – auch den Fall von Rolf Peters. Anfänglich konnten sie die von ihm berichtete Geschichte nicht bestätigen, heißt es vom DRK auf RTL-Anfrage. „Inzwischen konnte das DRK in mehreren persönlichen Gesprächen mit Herrn P. alle Missverständnisse klären“, heißt es jedoch weiter. Der Präsident des „Deutschen Roten Kreuzes Schleswig-Holstein“ habe sich bei ihm entschuldigt. Und: „Das DRK hat keinen Zweifel daran, dass Herr P. Betroffener war.“
Auch ein Verein steht für Verschickungskinder ein

Rolf Peters ist nicht alleine auf der Suche nach der Wahrheit: 2019 hat sich der Verein „Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung“ gegründet, um diese Zeit aufzuarbeiten.
Anja Röhl, Gründungsmitglied des Vereins, fordert, dass Länder und Bund eine Unterstützungs-Aktion ins Leben rufen, damit jeder Fall individuell aufgearbeitet werden kann und so eine Opfergleichstellung mit anderen Missbrauchsfällen hergestellt wird. Der Verein geht davon aus, dass viele 10.000 Kinder damals Opfer von Gewalt geworden sind.
Studie über Verschickungskinder in St. Peter-Ording
Auch, was St. Peter-Ording betrifft, gibt es immer wieder Gewalt-Vorwürfe von ehemaligen Verschickungskindern. Forschende der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel haben am Dienstag (11.10.) die Ergebnisse ihrer Studie über die Situation der Verschickungskinder des beliebten Urlaubsorts vorgestellt.
Die Untersuchung beruht auf mehreren Tausend Seiten Archivmaterial, zehn Einzelinterviews und mehreren Hundert Fragebögen einer externen Erhebung. So hätten ehemalige Verschickungskinder sehr häufig von physischer Gewalt berichtet.
Auch seelische Gewalt sei häufig bei Interviews mit Betroffenen genannt worden. Sehr selten sei es außerdem zu sexualisierter Gewalt oder Arbeitszwang gekommen. Erschütternd: Nach Angaben von Helge-Fabian Hertz vom Historischen Seminar der Universität dienten die Gewaltmaßnahmen aus Sicht der damals Verantwortlichen der Gesundheitsfürsorge. So sollte mit dem Kontaktverbot zu den Eltern, das unter seelische Gewalt falle, Heimweh reduziert werden.
Die Berichte aus St. Peter-Ording können nach Angaben der Autoren dagegen nicht belegen, dass es systematische Gewaltanwendungen aus niederen oder ideologischen Beweggründen gab, wie etwa Sadismus.
Das Ziel von Betroffenen wie Rolf Peters: Die Wahrheit ans Licht bringen und endlich echte Hilfe bekommen.