"Team Wallraff"-Reporterin Pia Osterhaus über ihre Undercover-Einsätze in Altenheimen

Auch Monate nach meinem Undercover-Einsatz kommt mir ein bestimmtes Erlebnis immer wieder in den Sinn:

Wallraff Pflege 02
Aus der Undercover-Reporterin Pia wird die Praktikantin Diana.

Der 85-jährige Herr F. war erst vor ein paar Tagen ins Pflegeheim eingezogen. Bettlägerig und an Parkinson erkrankt, fiel es ihm schwer zu sprechen. Jedes Wort hat ihn viel Kraft und vor allem Zeit gekostet. Er brauchte Hilfe beim Essen und Trinken. Obwohl er beim Frühstück die Kaffeetasse kaum halten konnte, war es ihm wichtig, sie nicht mehr aus der Hand zu geben. Ein letztes Stück Selbstständigkeit und Würde.

Als eine Kollegin kam, um sein Kissen zu richten, wollte sie ihm – ohne zu fragen und ohne Erklärung – die Kaffeetasse einfach aus der Hand nehmen. Das passte ihm nicht – er wurde laut. Weil die Pfleger unterbesetzt waren, hatte kaum einer von ihnen Zeit mit ihm zu sprechen. Sie hielten ihn für „weggetreten“ – das war er aber nicht. Er war geistig klar, konnte seine Wünsche noch artikulieren und manchmal zeigte er Humor: „Ich habe immer Recht, das hat meine Frau auch immer gesagt!“ Für solche Sätze brauchte er Minuten. Niemand von uns kannte seine Lebensgeschichte. Fünf Tage nach seinem Einzug ist er im Pflegeheim gestorben.

Pfleger verdienen mehr Achtung und auch mehr Geld

Als ich im September vergangenen Jahres das Thema Altenpflege bekam, hatte ich neben meinem journalistischen Interesse auch eine persönliche Motivation. Mein Großvater war einer der wichtigsten Menschen in meiner Jugend. Als er mit einer fortgeschrittenen Krebserkrankung in ein Pflegeheim eingezogen ist, musste ich mit anschauen, wie er innerhalb kürzester Zeit körperlich und mental abgebaut hat. Generell ist es ein schwieriger Schritt für einen alten Menschen, sein gewohntes Umfeld zu verlassen und in einer solchen Einrichtung zu leben. Was mir damals in den Gesprächen mit meinem Großvater klar wurde: In Altenpflegeheimen scheint es keine Zeit für individuelle Wünsche und Bedürfnisse zu geben. Es ist ein bloßes „Abarbeiten“ von Menschen, die viel in ihrem Leben geleistet haben und zu denen andere früher aufgeschaut haben; deren Meinung mal wichtig war.

Doch wie ist die Situation in der Altenpflege heute? Immer wieder hört man das Wort „Pflegenotstand“. Mein Kollege Günter Wallraff bekam in den letzten Jahren immer mehr Zuschriften von Betroffenen, darunter viele Pfleger und Angehörige, die von gravierenden Missständen in diesem Bereich berichten. Auch ich habe während meiner Recherchen mit vielen Pflegekräften aus unterschiedlichen Bundesländern gesprochen – ob christliche Einrichtungen, privat oder gemeinnützig – alle hatten sie eines gemein: Sie klagen über zu wenig Personal und zu wenig Zeit für die ihnen anvertrauten Menschen. Wir haben uns bei der Undercover-Recherche bewusst für zwei Einrichtungen mit sehr guten Noten entschieden. Was ich dort vorgefunden habe, war überfordertes Personal, das sich selbst überlassen wird – und Bewohner, die mit gestresstem Personal allein gelassen werden.

Die Pfleger sind in vielen Einrichtungen dazu gezwungen, die pflegebedürftigen Menschen im „Akkord“ abzuarbeiten. Auf einer Station mit über 30 Bewohnern zu zweit, jeder möchte etwas – das ist nicht zu schaffen. Ich habe mehr als einmal erlebt, dass hilfebedürftige Menschen nicht einmal auf Toilette gebracht werden konnten, weil einfach keine Zeit dafür war: „Dann müssen sie halt in die Einlage machen!“

Wir haben ein System kennengelernt, in dem auch die Kontrollinstanzen wie Heimaufsicht und MDK-Benotung nicht gänzlich funktionieren. Die beste Heimaufsicht sind natürlich die Angehörigen: Aber was, wenn man als alter Mensch niemanden mehr hat? Da sind auch die Pfleger, Ärzte und täglichen Besucher in den Einrichtungen gefragt. Wir dürfen diese Zustände einfach nicht mehr so hinnehmen. Als kranker Mensch ohne die Unterstützung von Angehörigen ist man in diesem System aufgeschmissen. Es war traurig zu sehen, wie viele alte Menschen gar keinen oder nur wenig Besuch bekommen haben. Die schlecht bezahlten Altenpfleger haben viel Verantwortung und neben der fachlichen Qualifikation brauchen sie vor allem starke Nerven, Geduld und ein großes Herz. Die Menschen in diesem Beruf verdienen mehr Achtung und auch mehr Geld.

In einem ausführlichen Gespräch konnten wir unsere Erfahrungen dem Pflegebeauftragten der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, darlegen. Er versprach, sich noch mal mit uns zusammen zu setzen.

Aber es kann auch jeder etwas tun. Ehrenamtliche Helferinnen und Helfer können mit wenig Einsatz den Alltag auf den Stationen deutlich verbessern: Sie können geben, woran es am meisten fehlt: Zeit.

Pia Osterhaus