Ein würdiger Abschluss
"Silverview" von John Le Carré: Das letzte Buch des Meisters der Spionage

Gemeinhin bezeichnet man die Bücher von John Le Carré als Agententhriller, was ihnen nur zum Teil gerecht wird. Klar, seine ersten Bücher entstanden zur Zeit des Kalten Krieges und spielen währenddessen. Sie handeln von Agenten, dem Wettlauf und Kampf um geheime Informationen und doch ging es immer um mehr.
Das Dilemma des Spions
Es ging in jedem seiner Bücher – auch in denen, die nach dem Ende des kalten Krieges entstanden und spielen – um den Menschen. Um den moralischen Konflikten, in denen sich seine Charaktere befinden und wie sie aus ihnen herauskommen – oder eben nicht. Was das aus ihnen macht und wie sie damit umgehen. Sein ikonischster Charakter, George Smiley, beschrieb dieses Dilemma mit folgenden Worten: „Inhuman sein, um unsere Humanität zu verteidigen, brutal sein, um unsere Barmherzigkeit zu verteidigen, einseitig sein, um unsere Vielfalt zu verteidigen.“
Oder – um es auf eine höhere Ebene zu bringen: Wie geht ein demokratischer Staat mit einer Institution um, die zu seinem Schutz agiert und dabei gegen die demokratischen Grundsätze dieses Landes handeln muss, um seine Aufgabe zu bewältigen. Wie bringt man diesen Widerspruch in Einklang? Geht das überhaupt? Wie muss ein Mensch geschaffen sein, um diesem Auftrag gerecht zu werden? Fragen, die wahrscheinlich nicht zu beantworten sind. John Le Carré hat es dennoch unablässig versucht.
Worum geht es in Silverview?
In seinem letzten posthum erschienenen Buch „Silverview“ erzählt Le Carré von der schicksalhaften Begegnung zweier Männer, Julian Lawndsley und Edward Avon, in einem kleinen Ort an der englischen Ostküste. Lawndsley ist auf Sinnsuche. Er hat mit Anfang dreißig seinen gut bezahlten Job in Londons Finanzbranche gekündigt, um in dem kleinen Ort einen Buchladen zu eröffnen, obwohl er von Literatur so gut wie keine Ahnung hat. Da schneit eines Abends Avon in seinen Laden, der ein großes Wissen über Bücher zu haben scheint. Fast ein wenig zu bereitwillig bietet Edward seine Hilfe an und offenbart dabei auch ein großes Wissen über Julians Familie. Er behauptet, ein Schulfreund von Julians Vater zu sein. Julian gibt sich damit zufrieden und freut sich über Edwards Hilfe.
Zur gleichen Zeit erhält Proctor, Agentenführer des britischen Geheimdienstes, einen Brief, der nahelegt, dass es irgendwo im Dienst eine undichte Stelle gibt. Seine Ermittlungen führen Proctor in genau den Ort, in dem Julian und Edward ihr gemeinsames Projekt angehen. Und bald steht der Geheimdienstmann bei Julian auf der Matte.
Ein würdiger und versöhnlicher Abschluss
John Le Carré verwebt geschickt die Lebenswege dreier Männer, die kaum unterschiedlicher sein könnten. Zwar gibt es kleine Schnittmengen zwischen jeweils zweien der drei Männer. Als sie aber schließlich aufeinandertreffen, entstehen Konflikte, die sich kaum mehr auflösen lassen. Erfahrung und Gerissenheit prallen auf Unschuld und Naivität. Loyalität fordert Integrität heraus. Und wieder stellt Le Carré brennende Fragen: Wie viel bin ich einem Land oder einer Institution schuldig, die mich gerettet, aber dabei meine Werte verraten hat? Und was bin ich denen schuldig, die diesem Verrat zum Opfer gefallen sind? Wie und mit welchen Konsequenzen passt eigentlich die Liebe in diese Welt der Spionage?
Das Buch lässt einen wehmütig zurück. Ein junger, unschuldiger und zuweilen auch naiver junger Mann, der seinem Herzen folgt, wird hineingezogen in das groteske und unsinnige Intrigenspiel zweier alternder Geheimdienstler, deren Zeit längst vorbei ist. Er weiß gar nicht recht, was gerade um ihn herum passiert und kann nur zusehen, wie er mittendrin steckt. Wie aber soll es weitergehen, wenn die Männer der Vergangenheit weiter die Fäden spinnen? Hoffnung gibt die Einsicht Edwards, dessen letzte Worte an Julian – wie so oft bei Le Carré – zeigen, dass Verrat eben auch Treue sein kann. Edward lässt los. Er will keine Absolution für sich. Im Gegenteil, er erteilt sie Julian, solange dieser nur die Fehler der vorangegangenen Generation nicht wiederholt: „Es gibt Menschen, die wir niemals verraten dürfen, um welchen Preis auch immer. Ich falle nicht in diese Kategorie.“
Auch wenn „Silverview“ bereits im Jahr 2013 vor den Romanen „Das Vermächtnis der Spione“ und „Federball“ entstand, ist es ein runder und würdiger, und vor allem versöhnlicher Abschluss für das Lebenswerk John Le Carrés.