Mobbing am Brett

Schach-Skandal: Wie Magnus Carlsen seinen Kontrahenten ohne Beweise zermürbt

FILE PHOTO: Norwegian chess player Magnus Carlsen participates at the Energy Denmark Champions Battle 2019 in Circus Building, Copenhagen, Denmark May 22, 2019. Claus Bech/Ritzau Scanpix/via REUTERS    ATTENTION EDITORS - THIS IMAGE WAS PROVIDED BY A THIRD PARTY. DENMARK OUT./File Photo
Magnus Carlsen glaubt, dass sein Gegner Hans Niemann betrogen hat.
/FW1F/Kenneth Ferris, REUTERS, RITZAU SCANPIX

Magnus Carlsen hat sein Schweigen gebrochen. Einen Gefallen hat der Norweger der Schach-Welt damit aber (noch) nicht getan. Denn der Superstar hat am Montagabend nur noch mehr Unruhe gestiftet. Natürlich kann man ihm zugutehalten, dass er endlich mal gesagt hat, was er seit Wochen lediglich seltsam nebulös andeutet, nämlich, dass er seinem Kontrahenten Hans Niemann Betrug vorwirft. Beweise für seine Anschuldigungen liefert Carlsen nicht. Das ist ein Problem. Oder nicht? Die Fehde der beiden Großmeister erreicht seltsame Ausmaße.

Analysen bringen Ungereimtheiten zu Tage

Und die Verteilung der Rollen wird immer schwerer zu durchblicken. Dabei scheint die Sache grundsätzlich klar: Carlsen sieht sich als Opfer und Niemann als Täter. Der Norweger mag nicht glauben, dass er beim Sinquefield-Cup Anfang September auf legale Weise besiegt worden war. Wochenlang deutete er an, dass der 19 Jahre alte Amerikaner betrogen habe.

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Konkret ausgesprochen hatte er das aber nicht. Bis zum Montagabend. Da war das Beben aber längst nicht mehr einzufangen. Der Skandal ist einer, egal, ob die Vorwürfe stimmen oder nicht und hatte die gesamte Szene in Aufruhr versetzt. Die Experten stürzten sich leidenschaftlich auf Niemann, während Carlsen dem Treiben entspannt zusehen konnte. Die Rollen waren klar verteilt.

Analyse folgte auf Analyse. Und tatsächlich kamen Ungereimtheiten zu Tage. Der Großmeister Hikaru Nakamura fand etwa heraus, dass Niemann sich laut eigener Aussage auf bestimmt Züge von Carlsen aus der Vergangenheit vorbereitet hatte, die der Norweger den Datenbanken zufolge aber nie gespielt hatte. Seltsam, aber kein Beweis. Das mahnte auch Nakamura an.

HANDOUT - 04.09.2022, USA, St. Louis: Magnus Carlsen (l) aus Norwegen sitzt Hans Niemann aus den USA in der dritten Runde vom Schachturnier Sinquefield Cup im Saint Louis Chess Club gegenüber. Foto: Crystal Fuller/Saint Louis Chess Club/dpa - ACHTUNG: Nur zur redaktionellen Verwendung und nur mit vollständiger Nennung des vorstehenden Credits +++ dpa-Bildfunk +++
Der Druck auf Hans Niemann (r.) wächst.
nic, dpa, Crystal Fuller

Das seltsame Gehabe von Carlsen teilt die Szene

Aber immer mehr Experten hinterfragten plötzlich das Spiel von Niemann, der Weltranglisten-Nummer 49. In "normalen Partien" würde er seinem Ranking entsprechend agieren. In extrem wichtigen Duellen spiele er dagegen mit einer unglaublichen Präzision. FIDE-Meisterin Yosha Iglesias hatte am Montag, kurz bevor Carlsen den Betrug via Twitter offen benannt hatte, auf ihrem YouTube-Kanal eine Analyse präsentiert, die für Niemann in der jüngeren Vergangenheit einige sogenannte 100-Prozent-Spiele auswies. Ein Wert, den in dieser Häufigkeit normalerweise nur ein Schach-Computer erreicht.

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Der Druck auf Niemann wächst und wächst. Die Art wie er ausgeübt wird, grenzt allerdings an Mobbing. Und das Verhalten von Carlsen wirft Fragen auf. Warum versteckt er sich wochenlang hinter nebulösen Andeutungen? Er bemühte sogar ein Zitat von Starcoach José Mourinho. "Ich bevorzuge es, nicht zu reden. Wenn ich etwas sage, bin ich in großen Schwierigkeiten." Nun hat er gesprochen, aber nichts Belastendes geliefert. Die Schach-Welt ist geteilt. Während die einen sich intensiv als Fahnder betätigen, prangern die Anderen das seltsame Gehabe des norwegischen Genies an. So etwa Meisterin Jovanka Houska. "Er kann nicht einfach sagen: 'Ich glaube, du hast betrogen' und damit eine Hexenjagd provozieren. Er muss sagen: 'Hier ist mein Beweis'."

FILE - Tesla and SpaceX Chief Executive Officer Elon Musk speaks at the SATELLITE Conference and Exhibition in Washington on March 9, 2020. Musk will spend Monday, Sept. 26, 2022 and Tuesday, Sept. 27 with lawyers for Twitter, answering questions ahead of an October trial that will determine whether he must fork over the $44 billion he agreed to pay for the social platform before attempting to back out of the deal. (AP Photo/Susan Walsh, File)
Sogar Elon Musk ist vom Schach-Skandal fasziniert.
SAW, AP, Susan Walsh
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So schwer ist Betrug im Schach

Und während die Welt darauf wartet, diskutiert sie alle Szenarien des Betrugs. Die reichen von einem "Mann im Ohr" bis zu vibrierenden Analkugeln. Diese Theorie brachte Großmeister Eric Hansen ins Spiel. Und wie absurd sich die Dinge drehen: Sogar Multimilliardär Elon Musk hat seinen Gefallen an dem Wahnsinn gefunden. Zum Anal-Verdacht twitterte er: "Das Talent trifft ein Ziel, das kein anderer trifft; das Genie trifft ein Ziel, das kein anderer sieht (weil es in deinem Hintern steckt)." Wie schwer es ist, Betrug aufzudecken, hat Deutschlands jüngster Schach-Großmeister, Vincent Keymer, im Interview mit der Sportschau erklärt. Bei Amateuren sei das noch recht einfach herauszufinden. Aber: "Wenn ein Top-Spieler eine besonders gute Partie spielt, weiß man das nicht genau. Sehr gute Spieler können nun auch mal sehr starke Partien spielen", erklärte der 17-Jährige.

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Während es bei Online-Turnieren einfacher sei, trotz aller Möglichkeiten der Veranstalter mit vorgegebenen Kamera-Positionen und zufällig ausgewählten Raum-, Ohren- oder sonstigen Scans zu "cheaten", sei es bei direkten Duellen extrem schwierig. "Bei der Schach-Olympiade war es so, dass es Metalldetektoren gab. Oft gibt es sogar Scanner, die Funkwellen erkennen. Es wird schon einiges getan, um Betrug zu verhindern", erklärte er und fügte an: "Das Problem ist recht groß, weil die Engines so viel stärker sind als die Menschen." Niemanns Fortschritte, so erklärte Carlsen am Montag, seien "ungewöhnlich", bei einem der letzten Duelle habe er den Eindruck gehabt, der junge Amerikaner sei "nicht angespannt und noch nicht einmal voll konzentriert auf das Spiel in kritischen Positionen" gewesen: "Während er mich mit Schwarz auf eine Weise ausgespielt hatte, wie es meiner Meinung nach nur eine Handvoll Spieler können."

Und dann setzte Carlsen seinen Feldzug gegen den 19-Jährigen fort und betonte, dass er nicht mehr "gegen Leute spielen, die in der Vergangenheit wiederholt betrogen haben, weil ich nicht weiß, wozu sie in Zukunft in der Lage sind". Mehr könne er im Moment nicht sagen, "ich hoffe aber, dass die Wahrheit in dieser Sache herauskommt, was immer sie sein mag." Und tatsächlich hatte Niemann in der Vergangenheit schon betuppt. Er hat selbst zugegeben, im Alter von 16 Jahren bei virtuellen Turnieren zweimal betrogen zu haben. Er bereue das heute zutiefst, versicherte der Teenager, und er schäme sich dafür. Er sei bereit, komplett nackt zu spielen, um zu beweisen, dass er keine Hilfsmittel nutze: "Ich weiß, dass ich sauber bin." (tno)