Und das Maßband der Eltern kam ins FernsehenRTL-Redakteur erinnert sich: So erlebte ich den Torfall in Madrid

Ein Ersatztor muß aufgestellt werden, nachdem Fans von Real Madrid das erste Tor umgerissen haben
Der Torfall von Madrid.
Imago Sportfotodienst

Am 1. April 1998 fiel vor dem Champions-League-Halbfinale zwischen Real Madrid und Borussia Dortmund ein Tor um. Unser Kollege war live vor Ort. Hier erinnert er sich an das Spektakel im Estadio Santiago Bernabeu. Es ist auch die Geschichte davon, wie plötzlich das Maßband der Eltern im Fernsehen landete.

Ein legendäres Maßband

Mann, bin ich aufgeregt. Zum ersten Mal in meinem Leben nach Madrid und dann tatsächlich ins Estadio Santiago Bernabeu. Champions-League-Halbfinale, Real gegen Dortmund. Cool! Wenige Tage vor dem Abflug besprechen wir in der Sportredaktion noch die Themen für die Live-Sendung. Unter anderem gibt es ein Porträt von Real-Außenverteidiger-Legende Roberto Carlos. Ihm haben wir für einen Einspielfilm die beeindruckend kraftvollen Oberschenkel vermessen. Das könnten wir doch auch prima mit unserem Experten Franz Beckenbauer im Studio machen. "Kann irgendwer noch ein Maßband besorgen?" fragt jemand. Ich melde mich: "Klar, ich fahr noch bei meinen Eltern vorbei und bringe eins mit." Gesagt, getan!

Nur Augen für Roberto Carlos

Unser Flieger nach Madrid geht am Mittag des Spieltages, heute ist das undenkbar, viel zu spät. Wir haben prompt Verspätung und nach der Landung in Spanien ist klar: Es geht direkt vom Flughafen ins Stadion. Check-in im Hotel also erst nach dem Spiel – kein Problem. Ist alles geklärt. Gut, volle Konzentration auf Fußball.

Mein Job ist es, die Live-Slomo als MAZ-Redakteur zu betreuen. Das heißt, ich behalte das ganze Spiel eine einzelne Kamera im Auge, die ausschließlich auf Roberto Carlos gerichtet ist. Gute Szenen rausschreiben und dann einem erfahrenen Redakteurskollegen anbieten, der einen schnellen Beitrag für die Analyse nach dem Abpfiff zusammenzimmert. Ich bin also quasi das kleinste Licht der Produktion. Aber völlig egal, ich bin im Bernabeu. Oder zumindest in einem Ü-Wagen in den Katakomben des Bernabeu. Gut, dass ich mir weit vor dem Abpfiff zumindest einmal das leere Stadion von innen angesehen habe.

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Und plötzlich fällt das Tor

In der Abschlussbesprechung vor der Sendung übergebe ich das Maßband an die Kollegen, die geben es an Günther Jauch weiter. Beckenbauers Oberschenkel soll aber nun doch nicht mehr vermessen werden. Das macht ja keinen Sinn, der Kaiser spielt ja schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Der Vergleich mit Roberto Carlos ist Quatsch. Ok, stimmt eigentlich.

Dann geht‘s los. Die Mannschaften kommen aufs Feld. "Meine" Kamera steht seitlich vom Tor auf der rechten Seite. Noch filmt sie die Fans hinter dem Kasten. Macht ja nichts, das Spiel hat ja noch nicht angefangen. Plötzlich bricht der Sicherheitszaun hinter dem Tor, die Real-Anhänger hatten daran gezogen, ein paar Menschen fallen auch herunter. Sieht aber nicht schlimm aus.

Der Operator des Live-Slomo-Geräts und ich sehen das zwar alles, denken uns aber nichts dabei. Dann der Satz aus der Regie: "Das rechte Tor liegt am Boden. Es ist umgefallen." Mein Kollege und ich brauchen ein paar Sekunden, vielleicht sind es auch Minuten. "Ich glaube, wir wissen was mit dem Tor passiert ist", melden wir zurück an die Regie. "Die Fans haben am Zaun gezogen, der ist umgeknickt und hat das daran angebundene Tor mit umgerissen. Wir können Euch das in der Live-Slomo zeigen. Schaut mal." Tatsächlich, so ist es gewesen. Beinahe ohne es zu merken, sind wir Zeugen eines Stücks Sportgeschichte geworden. Nur wussten wir das da noch nicht…

Riesen Gelächter im Ü-Wagen

Dann geht die Hektik los. Wir hören wie die Kollegen nebenan mit der Zentrale in Köln kommunizieren. Im Sender sollten Ersatzprogramme bereitgelegt werden, hier wird erstmal kein Fußball gespielt. Doch dann spielen sich Günther Jauch und Marcel Reif in Topform. Sie kommentieren einfach weiter und RTL sendet einfach weiter aus Madrid. "Das erste Tor ist schon gefallen." Und: "Noch nie hätte ein schnelles Tor einem Spiel so gut getan." Großartig! Riesengelächter im Ü-Wagen. Es wird immer kreativer, lustiger, skurriler. Irgendwann – direkt nach einer Werbepause – steht Günther Jauch mit dem Maßband meiner Eltern auf einem Stuhl. "2,44 Meter, so hoch ist ein Fußballtor, wenn es denn da wäre." Gut, dass er das Maßband noch in der Hosentasche hatte …

Das Maßband liegt immer noch bei den Eltern zuhause.
Das Maßband liegt immer noch bei den Eltern zuhause.
Sport intern

Zurück mit dem Maßband, aber bitte mit Unterschrift

Hinterher wird sich herausstellen, dass in diesen 76 Minuten Live-Baustelle Bernabeu rund zwei Millionen mehr Zuschauer eingeschaltet haben als beim späteren Spiel. Wahnsinn, eine RTL-Sport-Sternstunde.

Irgendwann weit nach Mitternacht sind das Spiel und die Sendung dann auch mal zu Ende. Ein langer, aber auch irrer Tag geht zu Ende. Ab ins Hotel, endlich. Alle können in ihr Zimmer, meins ist leider doch anderweitig vergeben. Schade. Nachts um zwei läuft ein Hotelangesteller mit mir durch Madrid, um mich zu einem anderen Hotel zu bringen. So sehe ich wenigstens noch ein bisschen was von der Stadt.

Denn schon am nächsten Morgen geht es zurück. Beim Check-Out im Hotel klingelt mein Telefon. Meine Mutter. "War das mein Maßband?", "Ja!", "Mitbringen bitte, mit Unterschrift von Herrn Jauch! Das war spitze gestern." Ok, wird erledigt. Dann ab zum Flughafen, es geht direkt nach Stuttgart. Denn am Abend übertragen wir das Halbfinal-Hinspiel im Europapokal der Pokalsieger zwischen dem VfB und Lokomotive Moskau. Da lief alles rund: pünktlicher Flug, Hotelzimmer noch frei und ein "normales" Fußballspiel. 2:1 …wie langweilig.

Dieser Artikel erschien erstmalig 2020.