Aufwühlender Roman über Missbrauch
"Girl A" von Abigail Dean: Die Zerstörung einer Kinderseele

Wir kennen alle diese Fotos. Und wir alle schauen gebannt hin, voller Abscheu und Ekel, aber auch voller morbider Faszination. Bilder vom unterirdischen Verließ, in dem Elisabeth Fritzl jahrelang von ihrem Vater gequält wurde, Bilder von Natascha Kampbusch, Bilder vom Missbrauchsskandal im englischen Rotherham. Man könnte diese Reihe endlos fortsetzen.
Der Roman „Girl A“ von Abigail Dean erzählt eine Geschichte, die hinter einem dieser Fotos stecken könnte. Eine Geschichte, die lange vor dem Foto begann und auch dann noch weitergeht, wenn das Foto in Vergessenheit geraten ist.
Die Geschichte hinter dem Foto
Auch von Girl A gibt es ein Foto. Zusammen mit ihren sechs Geschwistern, aufgereiht vor ihrem Elternhaus, in dem die sieben Kinder unvorstellbare Qualen erleiden müssen. Abgeschnitten vom Tageslicht, ans Bett gekettet, ausgehungert in einem Meer aus Müll fristen sie ihr Dasein unter den Misshandlungen ihres Vaters, einem religiösen Fanatiker, der vorgibt, sie vor der bösen Welt da draußen zu schützen. Die Mutter schaut hilf- und tatenlos zu. Bis Girl A schließlich die Flucht gelingt und den Satz sagen kann, den sie sich unzählige Male vorgesprochen hat: „Mein Name ist Alexandra Gracie, ich bin 15 Jahre alt. Bitte rufen Sie die Polizei.“ Kurz darauf erscheint diese, doch Alexandras Vater entzieht sich der Verantwortung und bringt sich um. Ihre Mutter wird festgenommen, die verwahrlosten Kinder kommen ins Krankenhaus, in psychologische Behandlung und anschließend in Pflegefamilien. Derweil erzählen die Medien ausführlich die Geschichte von dem Horrorhaus in der englischen Kleinstadt Hollowfield. Auch in ihren Pflegefamilien lässt die Kinder ihre Vergangenheit somit nicht los.
Rückkehr in die Hölle der Kindheit
Das bekommt Alexandra „Lex“ Gracie – mittlerweile erfolgreiche Anwältin in New York – Jahre später schmerzlich zu spüren. Als ihre Mutter, die sie im Gegensatz zu manchen ihrer Geschwister nie im Gefängnis besucht hat, in der Haft verstirbt, wird Lex zur Testamentsvollstreckerin ernannt. Zum Erbe gehört unter anderem das Haus, in dem sie jahrelang leiden musste. Als sie nun nach Jahren ihren Geschwistern wiederbegegnet und das mittlerweile verfallene Haus in Hollowfield besucht, kommen die Erinnerungen mit voller Wucht zurück.
Von Verdrängung über Vergebung bis hin zu Verständnis
In ihrem Debütroman schildert Abigail Dean einfühlsam und eindringlich das Schicksal der Geschwister. Aus Sicht Alexandras erzählt sie, wie es den Geschwistern seit ihrem Entkommen ergangen ist. Unterbrochen von Erinnerungen an ihre Kindheit, die beschreiben, wie sich ein normales, durchschnittliches Elternhaus schleichend zu einem Schauplatz des Schreckens entwickelt. Jedem Geschwisterteil ist ein Kapitel gewidmet, das zeigt, wie unterschiedlich jedes Kind den Missbrauch erlebt, mit ihm umgeht und ihn nach der Flucht zu verarbeiten sucht – von Verdrängung über Vergebung bis hin zu Verständnis.
Aufrüttelnd und nahegehend
Deans Fokus liegt dabei weniger auf dem Missbrauch und den Misshandlungen als auf den „Auswirkungen von Traumata und medialer Aufmerksamkeit“, wie sie selbst sagt. Und wie die Erinnerung das Erlebte verzerrt. So bleibt zum Beispiel im Dunkeln, ob die Mutter ihren Kindern nicht helfen wollte oder schlicht nicht konnte. Ebenso fraglich bleibt die Rolle von Alexandra älterem Bruder Ethan. Die Erinnerungen der Geschwister unterscheiden sich und jedes vertraut den eigenen. Dies führt dazu, dass sich die Kinder nach der Unterbringung in Pflegefamilien langsam voneinander entfremden.
„Girl A“ ist ein ebenso spannender wie aufwühlender Roman, dem es gelingt, ein in Teilen nachvollziehbares Bild dessen zu zeichnen, was Missbrauch im Elternhaus und damit die Zerstörung des Urvertrauens eines Kindes anrichten kann. Es ist ein außergewöhnliches, aufrüttelndes und nahegehendes Buch, das einem mitunter die Tränen in die Augen treibt.
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