Olympia-Spektakel mit OvtcharovEine Niederlage, die einfach phänomenal ist
Es ist sicher eine der eindrucksvollsten Szenen dieser Olympischen Spiele. Tischtennis-Star Dimitrij Ovtcharov sitzt nach dem dramatisch verpassten Einzug in das Finale einsam auf der Tribüne. Körperlich und emotional völlig leer gepumpt nach dem vielleicht besten Spiel seiner Karriere.
Der außerirdische Gegner siegt
Die Sache ist die: Wenn man drei Matchbälle abzuwehren hat, dann reicht es eben nicht, wenn man nur zwei Matchbälle abwehrt. Dimitrij Ovtcharov hatte aber genau das getan. Er hatte Ma Long zwei Chancen auf den Einzug in das olympische Tischtennis-Finale abgenommen. Ma Long, das muss man wissen, wird in seiner chinesischen Heimat der „menschliche Außerirdische“ genannt.
Und warum die Menschen in seiner Heimat ihn so nennen, das demonstrierte er dann beim dritten Versuch von Ovtcharov, diesem sensationellen Match die finale Wendung zu geben. Long parierte in einem acht Sekunden langen Schlagabtausch (das ist tatsächlich lang) alle Attacken des Deutschen, attackierte selbst mit der Vorhand und wurde belohnt. Nach 81 Minuten hatte er gewonnen.
Die Medaillen-Highlights vom Donnerstag im Video
Bilanz? Eindeutig!
Ovtcharov sank auf den Boden. Sein letzter Schlag, eine longline gespielte Vorhand auf die Rückhand des Chinesen, war ins Netz gekracht. Statt Ausgleich im entscheidenden siebten Satz war der Traum vom Finale, der Traum vom Gold, geplatzt. Nun winkt noch Bronze als Trost. Gegner im Kampf um seine fünfte Olympia-Medaille ist der erst 19 Jahre alte Lin Yun-Ju aus Taiwan, der gegen den Weltranglistenersten Fan Zhendong ebenfalls 3:4 verloren hatte.
Was Ovtcharov und Ma Long vor den verwaisten Rängen des Tokyo Metropolitan Gymnasium auf die Platte zauberten, das war phänomenal. Das war technisch herausragend, körperlich im Grenzbereich und mental ein Thriller auf dem höchsten Niveau. Womöglich war es das bisher spektakulärste Event dieser Olympischen Spiele. Ovtcharov war von Beginn an voll da, bot dem vielleicht besten Spieler aller Zeiten einen Kampf, ohne eine Sekunde nachzulassen. Long gewann aber die ersten beiden Sätze.
Wie schon im Viertelfinale gegen den Brasilianer Hugo Calderano musste der Deutsche früh einen emotionalen Kraftakt leisten. Der gelang. Ovtcharov holte die Durchgänge drei und vier. Der fünfte ging wieder an den Chinesen. Den sechsten dominierte der 32-Jährige, der in Kiew geboren wurde, auf erstaunliche Weise. Long wankte. Im 19. Duell mit dem Deutschen drohte dem amtierenden Weltmeister und Olympiasieger die erste Pleite. Was für eine aberwitzige Bilanz. Was für ein Ausdruck der Dominanz dieser Ikone an der Platte.
"Das weiß am Ende nur der liebe Gott"
Dann kommt Satz sieben. Long legt vor, führt 5:3. Ovtcharov kontert. Und wie. Im spektakulärsten Ballwechsel des Turniers, in einem der spektakulärsten Ballwechsel der olympischen Geschichte, über 16 Sekunden prügeln sich die beiden Superstars die Kunststoff-Kugel um die Ohren, stehen dabei teilweise meterweit von der Platte entfernt. Eine krachende Vorhand wird von der nächsten krachenden Vorhand gekontert. Erst der 28. Schlag, eine offene Vorhand des Chinesen fliegt neben den Tisch.
Das Momentum klar auf Seiten des Deutschen, der Stand 5:4 für Ma Long.
Ein Wirkungstreffer für den Weltranglistendritten? Nein, Ma Long zieht auf 8:4, auf 9:6 und auf 10:7 davon. Den dritten Matchball nutzt er schließlich. Und Ovtachrov? Er zieht sich allein auf die Tribüne zurück, greift zum Handy, telefoniert mit der Heimat, mit dem Vater, mit der Frau. Trost und Lob für ein Monsterspiel. „Das war eines der besten Spiele, die ich je gespielt habe. Ich hatte den besten Spieler, den es je gab, beim größten Turnier am Rande einer Niederlage", sagte Ovtcharov: "Warum es im Sport manchmal so und manchmal so geht, weiß am Ende nur der liebe Gott."
Der dürfte indes begeistert gewesen sein. (tno)