Zurück im ProfifußballRot-Weiss Essen: Die euphorische Auferstehung des schlafenden Fußball-Giganten

In der Stadt Essen ist die Lage, nunja, euphorisch. Mindestens. Und der Ort des größten Glücks lässt sich ziemlich genau verorten. Längengrad: 6°58′33.82′′E (6.976063), Breitengrad: 51°29′11.22′′N (51.486449). An diesem Ort, an der Hafenstraße 97A, wird die 3. Fußball-Liga an diesem Samstagnachmittag (ab 14 Uhr) ihre vielleicht, nein, wahrscheinlich wuchtigste und lauteste Premiere erleben. Denn Rot-Weiss Essen ist zurück im Profifußball. Der Deutsche Meister von 1955 hat sich aus dem Matsch der Schweine-Liga befreit und ist mehr als bereit, der Welt zu zeigen, wie laut der Puls des abgerockten Traditionsriesen noch schlagen kann. Essen war zuletzt 2007/08 drittklassig, als die Regionalliga noch die höchste Klasse unter der 2. Bundesliga war.
Das Starsensemble wurde sporadisch verstärkt

Knapp 10.000 Dauerkarten sind verkauft, die Zahl der Mitglieder kletterte auf 8300. Noch bevor der erste Anpfiff der Saison ertönt ist, Mitaufsteiger Elversberg kommt zu Besuch, saugt die alte und stolze Industriestadt alles mit grenzloser Gier auf, was der Verein zu erzählen hat. Dabei ist das gar nicht so viel. Zumindest sportlich nicht. RWE vertraut beim ersten Gastspiel in der 3. Liga seinen Aufstiegshelden. Der Kader wurde nur sporadisch verstärkt. Ein Wagnis ist das sicher nicht. Denn schon in der Regionalliga West wirkte die Mannschaft wie ein Allstar-Team. Begehrte Spieler wie Daniel Heber, Niklas Tarnat oder Isaiah Young blieben, ebenso die Routiniers Felix Bastians, Ouzghan Kefkir, Thomas Eisfeld und Simon Engelmann.
Hinzu kamen mit Ron Berlinski (Sturm) und Björn Rother (Mittelfeld) zwei bereits erfahrene Spieler aus der 3. und 2. Liga sowie spannende Talente. Moritz Römling etwa, vom VfL Bochum. Oder aber Lawrence Ennali von Hannover 96. Von dort kommt auch der neue Trainer, Christoph Dabrowski sein Name. Möglich, dass es an dieser Stelle Fragen gibt. Warum halten die Essener ihren Kader, tauschen aber den Trainer aus? Nun, die Geschichte ist tatsächlich kurios. Es ist eine Geschichte von Panik und Mut. Zwei Spieltage vor Schluss der vergangenen Saison war Christian Neidhart aus dem Amt entlassen worden. Der nach Punkten erfolgreichste Coach der Klubhistorie. 2,29 Zähler holte er im Schnitt, mehr als Julian Nagelsmann in seiner Premierensaison beim FC Bayern. Verrückt. Aber in Essen spürten sie, dass der GAU näher war als der Aufstieg. Populär war das nicht, erfolgreich schon.
"Es ist der pure Wahnsinn"

Und diesen Erfolg, den wollten sie. Den wollten sie unbedingt. Nicht schon wieder scheitern. 15 Jahre nach dem Abstieg aus der 2. Fußball-Bundesliga war die Sehnsucht nach dem großen Fußball so gigantisch, dass alle Mittel heilig waren. Mittlerweile ohnehin vergessen. Wie alles, was die Fans in der Rückrunde fast aufgefressen hatte. Der fatale Böllerwurf beim Spiel gegen den Erzrivalen und Hauptkonkurrenten Preußen Münster, all jene Spiele, die plötzlich nicht mehr gewinnen werden konnten, die schmerzhafte Halbfinal-Abreibung im Niederrheinpokal gegen den Wuppertaler SV. Vergessen waren auch die beiden Possen um entmachtete Kapitäne.
Nun ist Essen zurück. Der Kultklub. In einer Liga voller Kultklubs. Dynamo Dresden rauscht von oben herab. 1860 München kämpft um die Rückkehr in die 2. Liga. Waldhof Mannheim hat Ambitionen, der 1. FC Saarbrücken war vergangene Saison lange gut dabei. Der MSV Duisburg kämpft um Stabilität ebenso der SV Meppen. Für RWE ist das alles egal, wie Musik in den Ohren klingt es dennoch. Denn es klingt nicht mehr nach Provinz, sondern nach großer Bühne.
Und die werden die Fans dem Aufsteiger beim ersten Heimspiel in der 3. Liga definitiv bescheren. "Es ist der pure Wahnsinn, was gerade um den Verein herum passiert. Umso wichtiger ist es, dass wir fokussiert und akribisch weiterarbeiten. Dann bin ich überzeugt, dass wir eine gute Saison spielen können", sagt Essens Sportdirektor Jörn Nowak im "Reviersport". Für den Verein gilt der Klassenerhalt als Ziel: "Ich wünsche mir, dass das Umfeld die Euphorie lange aufrechterhält und der Mannschaft auch bei möglichen Rückschlägen Vertrauen schenkt. Das sollte sie sich erarbeitet haben", betont Nowak.
"Das ist schon ein dezenter Wahnsinn"

Der neue Coach hatte die Pott-Mentalität bereits verinnerlicht, noch bevor er den Vertrag unterzeichnet hatte. Zwischen 2006 und 2013 hatte er für den Revierrivalen VfL Bochum gespielt, ein paar A40-Ausfahrten weiter. Dort war der defensive Mittelfeldspieler ein Fan-Liebling, weil er ein Malocher war. Einer, von ihnen. Einer, wie sie ihn lieben. "Mit meiner Mannschaft möchte ich emotionalen, aktiven und aggressiven Fußball spielen und die Fans begeistern", sagt er. Aber er sagt auch: "Wir wollen hart arbeiten und eine stabile Saison spielen." Es ist das realistische Szenario.
Aber Rot-Weiss Essen ist ein Klub der Gefühle nicht der harten Realitäten. Rot-Weiss Essen, das ist eine Symbiose aus Liebe und Leid. Ein ewiges Auf und Ab. Lange dominiert das "Ab", nun soll das "Auf" übernehmen. Im Umfeld träumen sie bei aller Bescheidenheit schon wieder von größeren Zeiten. "Der Weg hat gerade erst begonnen", hatte Nowak nach dem Aufstieg gesagt. Er ist voller Euphorie. "Zur Zeit könnte Rot-Weiss Essen auch 500 Tickets dafür anbieten, den Spielern beim Abendessen in einer Pizzeria in Bergeborbeck zuzusehen. Nach 15 Minuten wären die alle vergriffen. Ist schon ein dezenter Wahnsinn", schreibt Twitter-User @Catenaccio_07. Und sehr wahrscheinlich hat er recht damit. In der Stadt Essen ist die Lage, nunja, euphorisch. Mindestens. (tno)




