Hat die Polizei hier versagt?
Dragqueens erzählen von Angriff in Frankfurter Innenstadt: „Da kickt der Überlebensinstinkt."

„Ophidia Scales“ und „Ember Remember“ – unter diesen Namen betreiben zwei junge Männer aus Frankfurt und Mainz ein gemeinsames Hobby: Sie schlüpfen in schrille Klamotten, schminken sich und gehen als Dragqueens raus in die Öffentlichkeit. Leider werden die beiden auch heutzutage noch regelmäßig mit Unverständnis und Intoleranz konfrontiert.
Am frühen Morgen des 27. März werden die beiden in Frankfurt auf offener Straße von einer Gruppe junger Männer angegriffen. So schlimm dieser Angriff auch war, noch viel tragischer ist eigentlich die Einordnung der Attacke durch die beiden Mittzwanziger: Angriffe wie diese sind sie gewohnt – sie kennen es einfach nicht anders.
Angriff auf offener Straße
Gemeinsam mit anderen Leuten aus ihrer Community waren Kenan (Ophidia Scales) und Marvin (Ember Remember) an besagtem Wochenende in Frankfurts Innenstadt unterwegs. Nach einer launigen Partynacht verlassen sie als Gruppe den Club in der alten Gasse und sind am Sonntagmorgen zwischen 5 und 6 Uhr an der großen Friedberger Straße unterwegs. Kurze Zeit später werden drei junge Männer im Alter zwischen 19 und 25 auf die Partygruppe aufmerksam. „Erst liefen sie uns entgegen, dann drehten sie sich um, liefen neben uns her und beschimpften uns“, erzählt Marvin im Interview mit RTL. „Die haben uns dann transphobe Sachen zugerufen, ich habe ,Schwuchtel´ verstanden“, sagt Kenan.
Was folgt, ist eine heftige Auseinandersetzung. Kenan wehrt sich verbal gegen die Beschimpfungen, daraufhin fühlt sich einer der Unbekannten provoziert, läuft auf Kenan zu und schlägt ihm auf die Nase. Daraufhin wirft er die Angreifer zu Boden. Auch Kenan selbst wird dann zu Boden geworfen, erleidet eine Prellung unter der rechten Brust. Die beiden Gruppen vermischen sich – „Es ging richtig die Post ab“, wird später einer der Geschädigten zu den ermittelnden Polizisten sagen. Warum und wie die Schlägerei dann endete, das wissen weder Kenan noch Marvin so richtig, zu hoch war der Adrenalinpegel in dem Moment – zu tief saß der Schock unmittelbar nach dem Angriff.
Hilfe durch die Polizei?
Nachdem sich die Partytruppe von dem Angriff lösen konnte, eilte sie gemeinsam zum Frankfurter Regenbogenkreisel. „Dort steht auch immer ein Streifenwagen“, sagt Marvin im Gespräch mit RTL. Auch am Tag des Angriffs war das so, in dem Polizeiwagen saß jedoch nur ein einzelner Polizeibeamter. „Wir standen da alle noch unter Schock“, sagt Kenan. Der Polizeibeamte blieb bei seinem Auto und bestellte Verstärkung. Laut Kenan hatten die Täter währenddessen mehr als genug Zeit, um die Flucht zu ergreifen. Als dann die Verstärkung vor Ort war, waren die Täter nicht mehr auffindbar. „Wären die sofort gekommen, hätten sie die Täter noch schnappen können“, ist sich Kenan sicher.
Die ermittelnden Beamten bemühten sich nach Eintreffen dann um die Aufnahme der Zeugenaussagen. Laut Kenan und Marvin seien die Einsatzkräfte teilweise extrem unsensibel gewesen. „Da war eine Polizistin, die war total verständnisvoll und freundlich“, erinnert sich Marvin. „Der Polizist, der uns aufgenommen hat, hatte aber leider wenig Geduld mit uns.“ Im Telefoninterview erzählt Marvin, dass er sich unsicher über das eigene Geschlecht ist, sich weder deutlich als Mann noch als Frau definieren möchte. Anders soll es aber der Polizeibeamte während der Zeugenbefragung gesehen haben. „Was soll ich denn jetzt hier eintragen? Männlich oder weiblich?“ Das Erfassungsystem der Polizei habe angeblich keine Möglichkeit gehabt, Zeugen als „divers“ abzuspeichern. Deshalb musste sich Marvin schlussendlich als Mann registrieren lassen, weil es keine Alternative gab.
Einer von Marvins Freunden soll bei der Befragung dann „Hier ging die Post ab“, gesagt haben. „Soll ich jetzt hier reinschreiben, da ging die Post ab oder was? Haben Sie nichts mehr anzugeben?“ – so die forsche Antwort des Polizeibeamten. Generell sei der Austausch mit besagtem Polizeibeamten sehr unpersönlich und wenig hilfreich gewesen.
Das sagt die Polizei zu den Vorwürfen

Im Zuge der Anschuldigungen der beiden Dragqueens hat RTL Hessen am 1. April eine Anfrage an die Frankfurter Polizei gestellt. Am 20. April erhielt unsere Redaktion eine schriftliche Stellungnahme. Unter anderem wollten wir herausfinden, ob Polizeibeamte in der Betreuung queerer Opfer besonders sensibilisiert werden, ob das Erfassungssystem zwangsläufig ein Geschlecht als Angabe braucht, wie präsent die Polizei an der betroffenen Stelle ist und warum besagter Streifenpolizist an dem Tag alleine am Regenbogenkreisel war.
Warum der Streifenpolizist alleine war, geht aus der schriftlichen Stellungnahme nicht hervor. Hier heißt es: „Aus polizei- und sicherheitstaktischen Gründen bitte ich um Ihr Verständnis, dass wir keine konkreteren Ausführungen zu dem Schutzauftrag der Streife machen können. In jedem Fall sind unsere Streifen bei ihrer Aufgabenwahrnehmung aber mindestens zu zweit unterwegs und decken dabei verschiedene Aufträge ab.“
In ihrer Stellungnahme bekräftigt die Polizei aber die Sensibilisierung der Einsatzkräfte im Hinblick auf die LSBT*IQ-Community. „Die hessische Polizei steht tagtäglich und rund um die Uhr für die Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger ein. Weltoffenheit, Vielfalt, Toleranz und Respekt sind dabei unumstößliche Grundsätze des polizeilichen Handelns“, heißt es dort. Darüber hinaus verfügt das Polizeipräsidium Frankfurt über eigens zuständige Ansprechpersonen. Auch das polizeiliche Vorgangsbearbeitungssystem sei dazu in der Lage, sämtliche Geschlechtsidentitäten zu berücksichtigen und zu hinterlegen.
Die Frankfurter Polizei ist sich im Klaren darüber, dass die Konstablerwache zu einem der am stärksten frequentierten Plätze im Stadtgebiet zählt. Daher werde dieser „umfangreich durch die Frankfurter Polizei bestreift, um die Sicherheit aller Menschen zu gewährleisten, die sich dort tagsüber und nachts aufhalten.“
„Ich kenne außer mir keine Queen, die sich traut, Bahn zu fahren.“
Man könnte sagen, die Gefahr feiert bei den Dragqueens immer mit. Erst vor wenigen Wochen wurde die Frankfurter Dragqueen Electra Pain Opfer eines Reizgas-Angriffes – ebenfalls in der Frankfurter Innenstadt. Dass gerade das Gebiet im Bereich der Konstablerwache ein heißes Pflaster ist, das wisse man in der Szene. „Ich kenne außer mir keine Queen, die sich traut, Bahn zu fahren“, sagt Marvin. Dabei wurde er auch hier im ÖPNV schon sexuell belästigt. „Ich habe aber nichts abbekommen“, sagt er. Damit meint er körperliche Angriffe.
Kenan arbeitet als Pfleger in einem Krankenhaus in Höchst. Der Frankfurter kommt gebürtig aus Bosnien, mit seiner offenen Art eckte er schon dort oft an. „Ich habe mich anders gekleidet, hatte bunte Haare, in den Schulfluren wurde ich beleidigt und mit Sachen beschmissen, konnte mich aber immer wehren“, sagt er. Nicht zuletzt die Ablehnung in Bosnien seiner Person gegenüber bewegten ihn vor sieben Jahren dazu, sein Glück in Deutschland zu versuchen. Anfeindungen sind für ihn nichts Neues. „Bei mir kickt immer der Überlebensinstinkt. Ich musste immer um meine Rechte kämpfen“ – als ihn am frühen Sonntagmorgen also drei junge Männer als „Schwuchtel“ beschimpft hatten, musste er sich zumindest verbal wehren, das stand für ihn außer Frage. Nach dem Schlag auf seine Nase musste er zupacken. Auch, wenn die Situation daraufhin noch weiter eskalierte.
Ophidia Scales und Ember Remember werden weiter feiern
Nach einer Attacke, die sicherlich die meisten Menschen traumatisieren würde, wirken Kenan und Marvin tatsächlich ziemlich abgebrüht. „Die Angst ist sowieso immer präsent gewesen, dass ich direkt in den Rücken getreten bekomme. Ich werde nicht aufhören, präsent zu sein oder irgendwas anders machen“, sagt Marvin. Kenan sieht das ähnlich: „Ich habe es sehr gut weg gesteckt, ich habe keine Angst raus zugehen, ich bin stark, ich muss weitermachen, ich gehe zu den Medien.“ Auch in Zukunft wird man Ophidia und Ember also an der Frankfurter Konstablerwache sehen – dann hoffentlich mit stärkerer Polizeipräsenz.