Wer zu spät kommt, ...

Hamilton ignoriert seine Strategen - und verliert

Mercedes driver Lewis Hamilton of Britain reacts after the Turkish Formula One Grand Prix at the Intercity Istanbul Park circuit in Istanbul, Turkey, Sunday, Oct. 10, 2021. (Umit Bektas/Pool via AP)
Hängender Kopf: Für Lewis Hamilton wäre beim Türkei-GP mehr drin gewesen.
DMV, AP, Umit Bektas

Michail Gorbatschow wird die Weisheit zugeschrieben, dass das Leben all jene bestrafe, die zu spät kommen. Das gilt in puncto Reifenwechsel auch für die Formel 1, wobei die Motorsport-Königsklasse bisweilen auch den bestraft, der zu früh (in die Box) kommt. Das richtige Zeitfenster zwischen zu früh und zu spät erwischen: In kritischen Rennen die Bewährungsprobe für alle F1-Strategen. Superhirn oder Versager - oft ein schmaler Grat.
Beim Großen Preis der Türkei verpasste Mercedes den richtigen Zeitpunkt für Lewis Hamiltons Reifenservice und vergeigte dessen Strategie – auch, weil der Weltmeister meinte, den Fahrplan selbst bestimmen zu müssen.

Hamilton beharrt auf seiner Sicht

Hinterher ist man immer schlauer. Auch so ein Spruch. Stammt zwar nicht von Gorbi, stimmt aber meistens. „Rückblickend hätte ich wohl besser draußen bleiben oder aber deutlich früher an die Box kommen sollen“, sagte Sir Lewis Hamilton nach seinem 5. Platz am Bosporus.

Der Brite wirkte ruhig wie immer und doch dürfte er innerlich geköchelt haben. Denn für Hamilton war in Istanbul mehr drin als eben jener 5. Platz. Gewiss: Von Startplatz 11 legte er eine ordentliche Aufholjagd hin und begrenzte den Schaden, den seine Grid-Strafe mit sich gebracht hatte. Anders als vor zwei Wochen in Sotschi Titelrivale Max Verstappen optimierte Hamilton die Schadensbegrenzung aber nicht.

Das dem nicht so war, daran hatte Hamilton selbst einen großen Anteil. Rundenlang beharrte er nach den Boxenstopps seiner Red-Bull-Rivalen Verstappen und Sergio Perez in den Umläufen 37/38 darauf, trotz heruntergekommener Intermediate-Walzen auf der Strecke zu bleiben.

Sir Lewis stürzt Mercedes ins Dilemma

Als ihm sein Renningenieur in Runde 42 dringend empfahl, dass frische Intermediate-Gummis jetzt doch das Gebot der Stunde seien, entgegnete Hamilton kurz und knapp, er sehe das anders. Des Weltmeisters Wille setzte sich durch, die Mercedes-Mechaniker, die schon parat standen, packten ihre Sachen wieder.

Man kann Hamiltons ziemlich eigenmächtige Ansage gut finden, schließlich wollen die Fans mündige Fahrer sehen, die im Cockpit auch selbst entscheiden. Man kann sie störrisch finden oder auch unklug. Klar ist: Sie stürzte die Mercedes-Kommandeure in ein Dilemma.

Denn: Mit jeder Runde mehr nudelte sich Hamilton seine Mischreifen weiter durch. Mit jeder Runde mehr schloss sich das Zeitfenster, in dem ein Boxenstopp wirklich Sinn ergab. Und: Mit jeder Runde mehr stieg das Risiko eines Reifenschadens, wie Silber-Häuptling Toto Wolff bei Sky anmerkte.

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Hamilton wird barsch

„Das ist unsere letzte Chance, neue Reifen zu holen“, funkten die Mercedes-Strategen ihrem Starpiloten in Runde 50 schließlich aufs Ohr. Hamilton, zu diesem Zeitpunkt auf Position 3 hinter Stallkollege Valtteri Bottas und Verstappen, lenkte ein und bog in die Box. Reichlich spät. Zu spät.

Der Rekord-Champion fiel auf Platz 5 zurück. Deutlich hinter Perez, mit dem er sich vor dessen Stopp noch ein heißes Rad-an-Rad-Duell geliefert hatte. „Als ich an dritter Stelle lag, fühlte ich mich richtig gut und dachte: Wenn ich diese Position einfach halten kann, dann ist das ein großartiges Ergebnis vom elften Startplatz kommend“, resümierte der Engländer. Tenor: Wär’ ich doch bloß durchgefahren.

„Wir hätten nicht reinkommen sollen“, meckerte Hamilton und fuhr seinem Renningenieur mit einem barschen „Lass mich in Ruhe!“ über den Mund, als dieser ihm die Zeitabstände durchsagen wollte. Plötzlich tauchten die Kollegen Pierre Gasly (AlphaTauri) und Lando Norris (McLaren) in Hamiltons Rückspiegel auf.

„Wenn du erst acht Runden vor Schluss reinkommst, hast du keine Zeit mehr, die Graining-Phase dieses Reifens auf einer abtrocknenden Strecke richtig zu durchlaufen“, erklärte Hamilton seine schwachen Rundenzeiten nach dem Stopp. Immerhin: Als die Pneus griffen, hatte der siebenmalige Champion keine Probleme, seine Position zu halten.

Mercedes zockt - aber warum?

„Wir haben gegambelt auf eine entweder abtrocknende Bahn oder aber das bis zum Ende auszuhalten. Dann aber war's so langsam, dass wir die Position verteidigen mussten, auch gegen Gasly", erläuterte Wolff bei Servus TV.

Eine durchaus erstaunliche Analyse, die mehrere Fragen aufwirft. Warum zockte Mercedes derart? Schließlich sprach in Istanbul nichts für eine trockene Linie und einen Wechsel auf Slicks (wie Sebastian Vettels jämmerlicher Ein-Runden-Versuch zeigte). Warum entschied sich Mercedes erst im allerletzten Moment zum Sicherheitsstopp? Warum wechselte man nicht deutlich eher wie die Konkurrenz von Red Bull oder wie man es selbst mit Sieger Valtteri Bottas tat?

Am Ende war die Mercedes-Strategie für Auto Nr. 44 weder Fisch noch Fleisch, freilich auch wegen der Prise Lewis-Bockigkeit. Denn das ultimative Risiko – durchfahren und versuchen Dritter zu werden – war den Silbernen dann doch zu groß. Die Gefahr eines Nullers wollte die Weltmeister-Mannschaft angesichts des engen WM-Fights gegen Verstappen unbedingt vermeiden. Deswegen Reißleine statt Risiko in Runde 51.

Safety first, lieber sichere Punkte mitnehmen, satt ausfallen: Bei einem Blick auf die Pneus von Alpine-Pilot Esteban Ocon (siehe oben), der als Einziger auf die 0-Stopp-Strategie setzte, muss man sagen: Immerhin das war die richtige Entscheidung.

Denn wer gar nicht kommt, den bestraft das Leben in der Formel 1 oft am Härtesten. (mar)