Fünf Lehren aus dem Portugal-Sieg
Löw ignoriert System-Nörgler, Kimmich kann's auch über rechts
Von Emmanuel Schneider
Die deutsche Nationalmannschaft hat sich eindrucksvoll bei der Fußball-Europameisterschaft zurückgemeldet. Das spektakuläre 4:2 gegen Europameister Portugal offenbart gleich mehrere Dinge: Einer der großen Gewinner ist Bundestrainer Joachim Löw, Deutschland hat einen ersten EM-Helden und hinten wackelt’s zwischendurch immer noch heftig.
Die Mannschaft hat Bock
Spielfreude, Spielwitz und mehr Spieltempo: Das DFB-Team startete mit so viel Power in die Partie, dass man meinte, sie hätten vor Anstoß die bisherigen 180 Minuten der Italiener in Dauerschleife gesehen. Torschütze Robin Gosens sagte nach der Partie: „Jogi Löw hat uns gestern Abend schon beim Abschlusstraining eingeheizt.“ Die Message „Alles oder nix“ war offensichtlich angekommen.
Mit relativ wenig Abtasten ging’s los, eine Abseitsposition verhinderte die frühe Führung durch Gosens‘ artistischen Seitfallzieher (5.). Auch nach dem überraschenden Rückstand durch Superstar Cristiano Ronaldo spielte die DFB-Elf (15.) fleißig nach vorne, diesmal auch mit mehr Durchschlagskraft und Effizienz als beim Auftakt. Durch scharfe Hereingaben erzwangen die deutschen Außenspieler gleich zwei Eigentore. Den dritten und vierten Treffer spielte die DFB-Offensive heraus, wie es sich für ein Team mit Titelambitionen gehört. So machte der zweite Abend in München die Chancen-Tristesse gegen Frankreich vergessen.
Eines der großen Ziele der Nationalmannschaft ist bekanntermaßen, die Herzen der Fans zurückzugewinnen. Auftritte wie solche gegen Portugal sind der Anfang für eine Herzensbrecher-Welle.
Deutschland hat einen neuen EM-Helden
Was für eine Karriere! Robin Gosens wurde weder in einem Nachwuchsleistungszentrum ausgebildet noch kickte er auch nur eine Sekunde in der Bundesliga. Mit 23 Jahren war er nur Insidern ein Begriff. Jetzt ist der Mann von Atalanta Bergamo der erste deutsche EM-Held in diesem Jahr.
Gosens, der 2020 die schlimmen Ausbrüche der Corona-Pandemie in Norditalien vor Ort miterlebte, überzeugte zunächst mit Kraft und Können auf dem Rasen. Unermüdlich raste er die linke Außenbahn hoch und runter, bereitete zwei Tore vor und köpfte kurz vor seiner Auswechslung wuchtig zum zwischenzeitlichen 4:1 ein. Die Entscheidung über den „Spieler des Spiels“ war am Samstagabend ein No-Brainer. Aber auch am Mikrofon wirkt der 26-Jährige erfrischend ehrlich und offen, erinnert ein wenig an den einstigen DFB-Sprücheklopfer Lukas Podolski.
Ein Tor für die Nationalelf, „da geht mir einer ab“, sagte er im Siegerinterview grinsend, den Abend bezeichnete er als „affengeil“. Und auch der Seitenhieb von Thomas Müller konterte er sofort. "Er hat das gemacht, was wir von ihm verlangen. Nur 60 Minuten, muss man auch mal sagen. Na gut, er spielt ja auch in Italien“, hatte der Bayern-Stürmer augenzwinkernd gesagt. Gosens’ Antwort: "Thomas hat es mir schon auf dem Platz gesagt. Ich habe geantwortet: Besser 60 gute Minuten als 90 schlechte - da war er ruhig."
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Joshua Kimmich kann es auch auf rechts
Am Freitagabend vor dem Spiel war es soweit: Joshua Kimmich sprach offen und in aller Öffentlichkeit an, was eigentlich allen klar war. Die Position auf der rechten Seite, auf der ihn Löw ins Spiel schickt, ist nicht so wirklich sein Ding. In der Zentrale zu spielen mache ihm mehr Spaß, außen fühle er sich manchmal auftragslos, sagte er auf der Spieltagspressekonferenz – an der auch Löw teilnahm. Rumms. Als eine Stunde vor Spiel dann die Aufstellungen bekanntgegeben wurde, gab’s dann aber das Kimmich- Déjà-vu. Der Bayern-Mittelfeldmann sollte erneut die Außenbahn beackern.
Der 26-Jährige nahm es gelassen und professionell. Und im Vergleich zum Spiel gegen Frankreich hatte Kimmich mehr Bindung zum Spiel. Seine Flanke führt zum zweiten Eigentor der Portugiesen. In der Entstehung des Ausgleichtreffers und beim vierten Tor war er ebenfalls beteiligt. Kurzum: Mehr Kimmich im deutschen Spiel, mehr Erfolg. Ob er will oder nicht: Kimmich kann es auch über rechts – und zwar auf (fast) Weltklasse-Niveau. Löw wird es mit Freude zur Kenntnis genommen haben.
EM-Party in München
Und es funktioniert doch - Löw ignoriert System-Nörgler weg
„Never change a winning Team“ heißt es eigentlich. Bundestrainer Joachim Löw hielt jedoch auch trotz Pleite exakt am Personal und System aus dem Frankreich-Spiel fest. Was wurde nicht alles geschrieben! Jogi, weg mit der Dreierkette, hieß es von vielen (oder den meisten) Experten, Medien, Ex-Spielern, aktuellen Trainern - und dem Mann mit Hut. Und was machte Löw? Er löwte. Sprich: Er hielt an seinem System mit Dreierkette und Kimmich auf rechts fest. Dann kann man stur nennen, ging ja auch schon mal schief. In diesem Fall war es in erster Linie erfolgreich. „Wir vertrauen dem Trainer, wir vertrauen dem System. Deshalb sind wir froh, heute das Spiel gewonnen zu haben“, sagt Kai Havertz.
Löw und die Systemfrage – sie ist nur vertagt. Spätestens bei einem möglichen Achtelfinale wird sie wieder aufploppen. Zumal Leon Goretzka durch seine Einwechslung und Lattenstreifschuss verdeutlichte, dass er eine Option im Mittelfeld ist. Was allerdings kein System der deutschen Elf kaschieren kann: Einen echten Mittelstürmer, einen „Ochsen“ vorne drin, wie es DFB-Direktor Oliver Bierhoff nannte, gibt es nun mal nicht im Kader.
Abwehr hat immer noch Wackler
Die vier Tore täuschen etwas darüber hinweg, dass die deutsche Defensive erneut ein paar Wackler in der Defensive hatte. Trotz starker Anfangsphase führte der erste echte Konter des Europameisters zum Gegentreffer: Diogo Jota und Cristiano Ronaldo – alle sträflich frei. Mehrere DFB-Spieler, unter anderem Gosens kamen nach eigener Ecke zu spät. Kann passieren.
Brenzlig wurde es dann wieder nach dem 4:1. Erneut schlief die Löw-Elf nach einer Standard-Situation. Ronaldo rettete einen Ball von der Grundlinie, Jota schob ohne Gegenspieler ein. Keeper Manuel Neuer war bedient, geigte seiner Defensive die Meinung. Gerade bei Standards muss das DFB-Team nachbessern. Auch der Beinah-Treffer von Renato Sanches resultierte aus einer Ecke. Viel zu tun für Jogi und seine Taktik-Tüftler im DFB-Quartier in Herzogenaurach.