Außergewöhnlicher Thriller im Check
"Die Knochenleser" von Jacob Ross: Mörderischer Frauenhass in der Karibik

Ein ungewöhnlicher Thriller – und dabei auch noch ein außergewöhnlich guter, der sich eines wichtigen Themas annimmt. Das kann man von vornherein schon mal über „Die Knochenleser“* von Jacob Ross sagen. In den wenigsten beginnt ein brillanter Forensiker seine Karriere als Herumtreiber und teilnahmsloser Zeuge eines Mordes. Denn in den wenigsten Fällen rekrutiert ein erfahrener Detective Superintendent sein Personal aus dieser Klientel. Aber auf der Antillen-Insel Camoha (Ross‘ Heimat Grenada nachempfunden) läuft alles ein bisschen anders.
Unfreiwillige Rekrutierung
Zunächst weigert sich der junge Michael „Digger“ Digson, das Angebot von Detective Superintendent Chilman anzunehmen, worauf dieser ihm droht, ihn wegen Herumreiberei einzubuchten. Außerdem stellt der Digger in Aussicht, Ermittlungen wegen des rätselhaften Verschwindens seiner Mutter anzustellen. Als er seinen Dienst antritt, stellt Digger fest, dass er nicht der Einzige in Chilmans Einheit ist, der unter eigentümlichen Umständen zum Polizeidienst „bewegt“ wurde. Und das hat seinen Grund: Chilman will Leute, die nichts zu verlieren haben, um so gegen alle Korruption und alle politischen Widerstände effektive Polizeiarbeit zu leisten. Bevor Chilman in den Ruhestand geht, schickt er seine Zöglinge auf Weiterbildung, zugeschnitten auf ihre Fähigkeiten. Und so erfährt Digger, dass er sich zum Forensiker eignet, denn Chilman kennt seine Jungs und Mädels besser als sie sich selbst.
Diggers Dilemma
Digger selbst hätte sich diese Ausbildung niemals leisten können, wie er direkt zu Beginn des Buches ausführt: „Ich war ohne Aussicht auf einen Job von der Schule abgegangen, dafür mit Noten, die mir laut meinen Lehrern Zugang zu jeder Universität der Welt verschaffen würden. Vorausgesetzt ich hatte das Geld dafür. Als ich die nötige Summe meinem Vater gegenüber erwähnte, lachte er. Die Filialleiter der Banken, zu denen ich ging, lachten nicht – zumindest nicht mir ins Gesicht. Sie fragten nach Eigenkapital, dann nach meinem Namen. Ich nannte ihnen den meiner Mutter. Sie betonten, wie großzügig es von ihnen gewesen sei, sich Zeit für mich genommen zu haben, und wiesen mir die Tür.“
Mit diesen paar Worten steckt Ross das Thema seiner Geschichte ab. Hier offenbart sich Diggers komplettes Dilemma. Intelligenz ist keine Frage der gesellschaftlichen Stellung oder des Geldes, Bildung aber sehr wohl. Wer kein Geld hat, bekommt keins, wer den falschen Namen trägt, auch nicht. Hätte Digger den Namen seines Vaters genannt, hätte er welches bekommen. Doch für ein uneheliches Kind einer Dienstmagd aus der Unterschicht, hat ein Mann aus der Oberschicht seine Verantwortung mit Abschluss der Zeugung abgegeben – und seinen Namen nicht weitergegeben. Das Schicksal Diggers setzt den Ton für die Geschichte, die Ross erzählt. Die Geschichte einer Gesellschaft, in der Männer über das Schicksal der Frauen bestimmen, nicht selten mit Gewalt. Wo Frauen auch mal spurlos verschwinden, wenn sie aufbegehren – wie Diggers Mutter.
Außergewöhnliches Ermittlerteam
Diese Frauenfeindlichkeit bekommt auch Miss Stanislaus, Diggers Partnerin (und Chilmans Tochter) zu spüren. Sie soll auf Wunsch ihres Vaters die Ermittlungen in einem Vermisstenfall unterstützen, wird aber vor allem von Diggers Vorgesetzten, Malan, nicht für voll genommen. Auch Digger hat zunächst seine Zweifel an der etwas seltsamen und vorlauten Miss Stanislaus, bis sie in einem Gespräch sein unter Verschluss gehaltenes Innenleben fein säuberlich seziert. So wie er in der Lage ist, Knochen zu lesen, kann sie Menschen lesen. Es ist der Startschuss für ein brillantes Ermittlergespann, das sich aufmacht, den Fall gegen alle Widerstände in der Polizei und der Politik zu lösen.
Was diesen Thriller so ungewöhnlich und gut macht, sind das Setting und die höchst eigenwilligen Charaktere. Und Ross‘ Wortgewandtheit, mit der es schafft, den Leser tief in das Geschehen zu ziehen. Selten schafft es ein Autor mit so wenigen Worten, so viel Atmosphäre, Intimität und Spannung zu kreieren. „Die Knochenleser“ ist für mich einer der besten Thriller der letzten Jahre und ein absolutes „Must-Read“.
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