Ein Kommentar

Die bösen AfD-Wähler - oder wie ein Ostbeauftragter den Griff an die eigene Nase vergisst

 Wanderwitz stellt Bericht Deutsche Einheit vor 2021-07-07 - Deutschland, Berlin - Bundespressekonferenz: Der Beauftragte der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, Parlamentarischer Staatssekretär Marco Wanderwitz, stellt den jahresbericht zum Stand der Deutschen Einheit 2021 vor. *** Wanderwitz presents German Unity Report 2021 07 07 Germany, Berlin Federal Press Conference The Federal Government Commissioner for the New Federal States, Parliamentary State Secretary Marco Wanderwitz, presents the Annual Report on the State of German Unity 2021
Der Ostbeauftragte der Bundesregierung Marco Wanderwitz stellt den Bericht "Deutsche Einheit" vor.
www.imago-images.de, imago images/Jürgen Heinrich, Jürgen Heinrich via www.imago-images.de

von Holger Schrapel
Im 31. Jahr der Einheit beklagt der Ostbeauftragte der Bundesregierung, der sächsische CDU-Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz, sein Unverständnis für die AfD-Wähler und eine ‘vertiefte Grundskepsis’ gegenüber der Politik.
Woran das wohl liegen könnte? An der DDR-Sozialisierung, so der gebürtige Chemnitzer. Ein Blick in die Taten zum Beispiel seiner sächsischen Landesregierung in den vergangenen 30 Jahren könnte seinen Blickwinkel etwas erweitern, findet unser Autor.

Jahrelanger Sparkurs stößt Menschen vor den Kopf

Ich bin in Sachsen aufgewachsen, war jahrelang Lokaljournalist im ländlichen Raum. Ich berichtete über geschlossene Polizeidienststellen, Kommunen am Rande des finanziellen Kollaps und ähnliches. All dies geschah auf Wunsch der sächsischen Regierung auf der Jagd nach der schwarzen Null im Landeshaushalt.

Ein sehr prägnantes Beispiel: Es stritten sich in den Nullerjahren die Gemeinderäte benachbarter Dörfer. Beide wollten unbedingt ihre jeweilige Oberschule – einen wesentlichen Mittelpunkt im sozialen Leben einer Kommune – trotz sinkender Schülerzahlen behalten. Das Dresdner Bildungsministerium löste den Konflikt ohne Rücksprache mit den Beteiligten. Und schloss beide Schulen. Seit über einem Jahrzehnt fahren Elfjährige erstmal eine Stunde Bus in die ehemalige Kreisstadt, bevor sie sich ins Klassenzimmer setzen.

So etwas bleibt hängen, zum Beispiel auch bei den Kindern, die jetzt Wähler sind.

Jahrzehnte lange Ignoranz gegen Rechtsextremismus

Als Teenie in den Neunzigern erlebte ich die ‘Baseballschlägerjahre’. ‘National befreite Zonen’ gab es zuhauf, jahrelang faktisch rechtsfreie Räume voller rechtsradikaler Schläger. Es traf dabei mitnichten nur Linke, Punks, Ausländer, ausländisch aussehende Menschen. So viele gab es nicht in der Provinz. Ein T-Shirt von ‘Die Ärzte’ reichte, um den kahlrasierten Jungs einen Anlass für eine Jagd durch den Ort zu geben.

Die Reaktion des Rechtsstaates? Ein Schulterzucken, maximal. „Wir Sachsen sind immun gegen Rechtsextremismus“ analysierte CDU-Ministerpräsident Biedenkopf. Welche Partei diese früheren haarlosen heutigen Familienväter wohl wählen, Herr Wanderwitz? Oder Leute, die in rechten Hegemonieräumen aufwuchsen?

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Falsche Versprechen

Die Deutschen sind wieder vereint: Bei der Berliner Feier am 3.10.1990 winken von der Freitreppe des Reichstagsgebäude (l-r) Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher (FDP), Hannelore Kohl, Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) und Bundespräsident Richard von Weizsäcker, daneben halb verdeckt Lothar de Maiziere, der letzte DDR-Ministerpräsident. Die Deutschen sind 45 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges mit dem 3. Oktober 1990 wieder in einem souveränen Staat vereint. Die DDR ist der Bundesrepublik beigetreten und existiert nicht mehr. Der Untergang des SED-Regimes hatte sich in einem rasanten Tempo vollzogen: Am 9.11.1989 öffnete die DDR endgültig ihre Grenzen.
Den Ostdeutschen wurden "Blühende Landschaften" versprochen.

Die erste Erfahrung der Ostdeutschen mit der Demokratie? Blühende Landschaften! Wurden versprochen, wider besseres Wissen, recht nah an der glatten Lüge, meiner Einschätzung nach. Unweit meines Heimatortes kündigte Anfang der Neunziger ein westdeutscher Milchkonzern mit großer Geste umfangreiche Investitionen in eine Molkerei an. Kassierte Zuschüsse. Und machte danach den Standort platt, schickte hunderte Menschen in jahrelange Arbeitslosigkeit.

Die Reaktion der sächsischen CDU-Regierung: Es ist keine überliefert. Eine Geschichte, die es in Ostdeutschland tausendfach gab. Wie sagt der Volksmund: Der erste Eindruck zählt. Vertrauen aufbauen sieht anders aus.

Die Schuld der Anderen

Sind das rationale Gründe, eine rassistische Partei zu wählen? Deren führende Köpfe man gerichtsfest als Nazis bezeichnen darf? Deren Antwort auf jede Frage ‘irgendwas mit Ausländern’ ist? Nein. Ganz sicher, nein.

Trotz der tollen Leistungen beim Aufbau Ost: Die Lücke der Resignierten und Politikverdrossenen, in die die AfD in Ostdeutschland stieß, hat die CDU geöffnet. Die Partei des Marco Wanderwitz. Klar, es ist einfacher, alles auf die SED-Diktatur zu schieben, weil: Das waren ja die anderen! Die Zeit danach kann man aber bei so einer ‘Analyse’ nicht einfach beiseite lassen.