Totgeprügelt, totgeschüttelt, verhungert: "Deutschland misshandelt seine Kinder"
"Deutschland misshandelt seine Kinder": Das behaupten zwei anerkannte Gerichtsmediziner, Prof. Michael Tsokos, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin an der Charité Berlin, und seine Kollegin Dr. Saskia Guddat. Als Gerichtsgutachter erstellen sie Berichte über die Verletzungen misshandelter Kinder. Meist sind es Kleinkinder, die lebenslange psychische und physische Schäden davontragen. Drei Kinder pro Woche überleben die Attacken ihrer gewalttätigen Eltern, Stiefeltern oder Pflegeeltern nicht. Laut Kinderschutzbund werden pro Jahr 200.000 Kinder in Deutschland in den eigenen vier Wänden schwer misshandelt.

Viele Kinder hätten gerettet werden können, wenn alle hingehört und hingeschaut hätten. Das sagt Gina Graichen, die erste Kriminalhauptkommissarin am LKA 125 in Berlin. Sie ist Leiterin des Kommissariats für Delikte an Schutzbefohlenen, das einzige bundesweit, das sich um vernachlässigte und misshandelte Kinder kümmert. "Geboren – Gequält – Gestorben - täglich werden Kinder misshandelt. Bitte zögern Sie nicht, denn Ihr Anruf kann entscheidend für das Leben eines Kindes sein", steht auf einem Plakat. Vor einem schmutzigen Holzkreuz liegt eine Babyflasche.
RTL-Nachtjournal-Redakteurin Sabine Sommer hat in der Hauptstadt mit Gina Graichen gesprochen. Sie ist für das Notfalltelefon zuständig, doch wenn klingelt, ist es meist zu spät.
Frau Graichen, früher waren viele der Ansicht, dass alles, was mit Kindern zu tun hat, Privatsache ist, hat sich das verändert?
Gina Graichen: "Ja. Wir haben Bilder veröffentlicht von misshandelten Kindern, so dass die Bevölkerung auch mal einen anderen Blick dafür bekommen hat, was wir eigentlich mit der Misshandlung von Kindern oder Kindesvernachlässigung wirklich meinen."
Viele Menschen wollen sich Bilder von misshandelten Kindern nicht anschauen, weil sie es nicht ertragen?
Graichen: "Ich kann nur sagen, ich will die Bilder eigentlich auch nicht sehen. Und ich wäre am frohesten wenn ich solche Bilder nicht sehen müsste, weil es einfach nicht mehr passiert. Aber es ist nun mal unser tägliches Brot. Es betrifft immer Kinder, denen es ganz, ganz schlecht geht. Und wenn jetzt keiner den Mut hat zu sagen, ich habe etwas gesehen, etwas gehört und einer öffentlichen Stelle, das muss nicht immer die Polizei sein, darüber Bescheid zu geben, dann kann es sein, dass es für das Kind zu spät ist. Deshalb ist es so wichtig, hinzugucken und hinzuhören."
Würden Sie sagen, lieber einmal zu viel anrufen als einmal zu wenig? Wie unterscheiden Sie Denunzianten von ernst zu nehmenden Anrufen?
Graichen: "Dieses Hinweistelefon wurde 2004, das ist jetzt 10 Jahre her, gestartet, und wir hatten natürlich vorher auch Bedenken, ob es nicht zu einem Forum für Leute wird, die anderen Leuten etwas Böses wollen. Glücklicherweise ist dieser Fall nicht eingetreten. Also diese Art von Denunziantentum, dass man jemanden einer Sache bezichtigt, die gar nicht wahr ist, ist hier kaum eingetreten. Es lässt sich natürlich nur durch Überprüfen feststellen. Meine Tendenz ist natürlich immer lieber einmal zu viel als einmal zu wenig."
Ist das Leben in der Großstadt anonymer geworden? Man kennt die Nachbarn gar nicht mehr, und Kinder fallen nicht auf, weil sie nicht wahrgenommen werden. Kennen sie solche Fälle?
Graichen: "Leider kenne ich solche Fälle auch, wo Kinder zwar vorhanden sind, aber eigentlich im Haus gar nicht bekannt ist, dass im Haus Kinder existieren. Wir hatten einen solchen Fall, wo ein Nachbar immer ein Kind hat weinen und schreien hören und eigentlich auch dachte, dass dort ein Kind wohnt, weil er gesehen hatte, dass die Frau vorher schwanger gewesen ist. Aber er hat dieses Kind nie draußen gesehen. Es kam dann leider dazu, dass er die Polizei wegen einer anderen Sache, die in der Wohnung passiert war, rufen musste und dann aber den Hinweis gegeben hat, gucken Sie doch mal, da muss ein Kind sein, und die Kollegen sehr intensiv suchen mussten. Weil das Kind fixiert in einem Kinderbettchen, direkt hinter einer Schrankwand platziert war. Hätte der Mann nicht angerufen, bin ich ziemlich sicher, hätte das Kind nicht überlebt."
Wie erkenne ich Misshandlung?
Graichen: "Misshandlung äußert sich, so ist es auch im Gesetz festgelegt, durch Quälen oder rohes Misshandeln, was meistens zusammen vorhanden ist. Das Quälen ist, Kinder unter Stress, unter Angst zu setzen, sie zu bedrohen, du kommst ins Heim, ich hab dich nicht mehr lieb, Liebesentzug. Weitaus aus sicherer ist das rohe Misshandeln, weil es nach außen hin Spuren setzt, die man sehen kann. Sicher gibt es bei Kindern auch Verletzungen, die durch spielen, durch rumraufen. Fußball spielen oder wenn sie kleiner sind durch die Anfänge vom Laufen oder Krabbeln verursacht werden. Aber es lässt sich schon sehr genau festmachen, ob sich ein Kind eine Verletzung beim Spielen zugezogen hat oder nicht, ob es einen Unfall gab oder ob sie ihm durch einen Dritten zugefügt wurden. Und danach gehen wir vor!"
Gibt es weitere Anzeichen?
Graichen: "Es geht damit los, dass Kinder, wenn sie nicht ordentlich versorgt werden, auffallen. Ob es die schmutzige Kleidung ist, der Geruch der Kleidung, das Zuspätkommen in der Schule, oder dass sie nie Arbeitsmaterialen dabei haben. Und wenn die Eltern erreicht werden sollen, meldet sich keiner. So was fällt auf. Natürlich will ich auch nicht, dass sofort die Polizei eingeschaltet wird, aber wenn ich mir das über Jahre angucke und nicht die Möglichkeit habe, ein Jugendamt, die Polizei, den Kinderschutzbund oder sonst wen anzurufen und um Rat zu fragen, dann frage ich mich: Wie lange will derjenige noch warten, bis etwas für das Kind passiert? Wir hatten einen Fall in der Stadt wo eine Mutter beschlossen hat, zu ihrem Freund zu ziehen, und die Kinder können für sich alleine sorgen. Der Junge war zwölf, die beiden Mädchen waren unter zehn. Dem Zwölfjährigen hat sie fünf Euro in die Hand gedrückt für die Woche, er sollte davon etwas einkaufen. Die Wohnung war komplett verwahrlost. Das Kind ist völlig überfordert mit der Situation – es ist nicht Familienvater und Oberhaupt, er ist ein Kind."
Rechtsmediziner Tsokos: "Wir müssen dieses Systemversagen anprangern"

Graichen zeigt Akten des Grauens, mit Fotos von misshandelten Kindern. Kinder übersäht mit blauen Flecken, stranguliert, mit Bisswunden, mit Verbrennungen, Verbrühungen durch heißes Wasser, der Herdplatte oder einem Dampfbügeleisen. Sie zeigt eine Kinderhand mit einer Brandwunde von einer ausgedrückten Zigarette.
Wenn solche Fälle vor Gericht kommen, werden Gerichtsgutachter wie Prof. Michael Tsokos und Saskia Guddat beauftragt. Beide sagen, die meisten Tötungsdelikte oder gravierenden Misshandlungen hätten verhindert werden können. Sie haben das Buch 'Deutschland misshandelt seine Kinder' geschrieben, das die Fehler im System aufzeigt.
Für Tsokos ist es "als Rechtsmediziner eine unhaltbare Situation, dass vor mir auf dem Sektionstisch ein totes Kind liegt und das Jugendamt sagt, wir haben alles richtig gemacht. Dann frage ich mich, wer hat alles richtig gemacht, wenn vor mir ein totes Kind liegt?" Der Wissenschaftler hat auch die die Leiche von Jessica untersucht. Der Fall hatte Schlagzeilen gemacht: Ein Mädchen aus Hamburg, eingesperrt, verwahrlost und schließlich verhungert. Tsokos erinnert sich an furchtbare Details. "Das Mädchen, als es auf meinem Sektionstisch lag, war bei einem Alter von sieben Jahren nur noch 9,5 Kilo schwer. Wobei davon drei Kilo Kot im Darm waren, das heißt also das Kind wog nur noch 6,5 Kilo. Die Haare des Kindes waren ausgerissen oder kurzgeschoren. Wir haben im Magen des Kindes Tapetenreste und Teppichreste gefunden, die es offensichtlich in seiner Verzweiflung, um zu überleben, weil es ja eben dann letztendlich verhungert ist, gegessen hat. Und wir haben auch die Windel vorgefunden, mit Kabelbindern am Körper des Mädchens fixiert."
Für ihn ist der Fall Jessica ein Beleg dafür, dass "System hinter diesem Versagen steckt", schließlich seien staatliche Institutionen involviert gewesen. So habe die Schulbehörde gewusst, dass das Kind nicht in die Schule komme, sei dem aber nicht nachgegangen.
Leider kein Einzelfall: Immer wieder müssten sich die Behörden Versagen vorwerfen lassen. Das sei einer der Gründe für das Buch gewesen, so Tsokos. "Wir müssen dieses Systemversagen anprangern und ins öffentliche Bewusstsein bringen", sagt er. Trotzdem werde den Gutachten der Gerichtsmediziner häufig nicht geglaubt. "Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Weil Richter und Schöffen den Angeklagten nicht zutrauen, eine Kinderhand auf die heiße Herdplatte zu drücken oder Kinder in die heiße Badewanne zu drücken."