Helden-Tod im EM-Halbfinale
Das ganz große Drama des Alvaro Morata
Wenn einem Menschen Dinge passieren, wie sie Álvaro Morata am Sonntagabend passiert sind, dann sollte man eine Sache besser nicht tun: Kommentare bei Twitter lesen. Bei der Lektüre dieser Hauptpostille der Wütenden und Frustrierten kommt selten etwas Sinnvolles herum, etwas Tröstendes, etwas Aufbauendes. Nach allem, was man an diesem frühen Montagmorgen weiß, hat sich Morata die Lektüre von Schimpf und Schande tatsächlich geklemmt. Aktivitäten des Stürmers bei Twitter oder Instagram sind nach dem dramatischen Scheitern seiner spanischen Nationalmannschaft im Halbfinale der Fußball-EM (2:4 nach Elfmeterschießen) nicht verzeichnet.
Ciao Spanien! Italien zieht ins Finale ein
Einfach mal nicht bei Twitter vorbeischauen...
Morata ist der Protagonist in diesem Drama. Und das ist tragisch. Im Duell vom Punkt scheiterte er mit einem schwach geschossenen Elfmeter an Gianluigi Donnarumma. Er scheiterte als zweiter Spieler seines Teams. Zuvor hatte bereits der Leipziger Dani Olmo vergeben. Er hatte drübergeschossen. Weil nach dem Schüsschen von Morata ein abgezockter Elfmeter von Jorginho folgte, war Spanien raus. Und Morata schuld. Zumindest in den sozialen Netzwerken. In den heimischen Medien wurde der 28-Jährige dagegen einigermaßen verschont. Das ist nicht immer so. Tragische Figuren werden auf den Titelseite gerne auseinandergenommen.
Aber womöglich haben sie in Spanien in den vergangenen Tagen eine neue, ein bisher unbekannte Sensibilität im Umgang mit dem Stürmer entdeckt, an dem sich Fans und Öffentlichkeit seit Jahren abarbeiten. Weil Morata von seinem Talent so viel verspricht und oft so wenig einlöst. Wie gegen Italien. Zu Beginn saß er auf der Bank, dann kam er nach gut einer Stunde ins Spiel, kurz zuvor war Italien durch Federico Chiesa in Führung gegangen. Sein Auftrag: ein Tor schießen. Mindestens ein Tor schießen. Und Morata erfüllte den Auftrag. Überragender Antritt im Zentrum, überragender Doppelpass mit Olmo, gnadenloser Abschluss nach perfekter Ballmitnahme. Es folgten noch andere gute Szenen. Würde man über Morata nicht andere Dinge wissen, dass er oft viele Chancen liegen lässt etwa oder dass seine Einstellung zum Job nicht immer höchst professionell sein soll, man hätte in diesem Moment denken können, da ist eine Weltklassestürmer am Werk.
Beeindruckende Vita, aber ...

Die Beförderung in diesen Dienstgrad bleibt Morata aber untersagt. Seit jeher. Zwar liest sich seine Vita wie die eines Mannes, der in die allererste Garde der Angreifer gehört, aber zwischen Lebenslauf und Lebenswerk klafft eine amtliche Diskrepanz. Weder bei Real Madrid noch bei Juventus Turin, dem FC Chelsea oder Atletico Madrid hat er es geschafft, sich nachhaltig Ruhm und Ehre zu erarbeiten. Getroffen hat er überall. Nicht überragend oft, aber meistens doch solide. Einmal, da war er sogar richtig erfolgreich. Bei seiner Rückkehr zu Real in der Saison 2016/17 erzielte er in 26 Spielen 15 Tore und bereitete 5 vor. Meistens als Joker. Gesetzt war Karim Benzema. Morata verlor die Geduld. Beklagte bereits während der Saison mangelnde Einsatzzeiten und verließ den Klub am Ende der Saison. Es ging nach London, es ging zum FC Chelsea. Womöglich war die Ungeduld des damals 24-Jährigen der größte Fehler seiner Karriere. Denn er war ja nah dran an seinem Traum: Stammspieler bei den Königlichen.
Morata hängt seither das Prädikat an, zu gehen, wenn es etwas komplizierter wird. Als einer, der sich durchbeißen kann und will, gilt er nicht. Die Fans in seinem Heimatland, sie fremdeln mit ihm. Ein Liebling ist er nicht. War er nie. Dabei war die Versöhnung in den vergangenen Tagen so nah. Mit einer spektakulären Leistung im Achtelfinale gegen Kroatien (5:3 nach Verlängerung) hat er seine kleine Heldengeschichte geschrieben. Der 28-Jährige hat diesem wilden Spiel in der 100. Minute die finale Wende gegeben. Er hatte seinen ganzen Frust in einen gnadenlosen Linksschuss unter die Latte gelegt. "Er hat gezeigt, dass es nur wenige Spieler gibt, die in der Lage sind, das zu tun, was er getan hat", sagte Nationaltrainer Luis Enrique: "Er hat viel Persönlichkeit, er erträgt Situationen, die keiner von euch ertragen möchte. Ich habe eine lobenswerte Einstellung bei ihm gesehen."
Morata macht Drohungen gegen Familie öffentlich
Vor dem Spiel gegen den Vizeweltmeister hatte der in Vorrunde wie seine Mannschaft schwach spielende Morata heftige Attacken und Beleidigungen gegen sich und seine Familie öffentlich gemacht. "Ich habe Drohungen bekommen, meine Familie wurde beleidigt", gestand er in einem ausführlichen Interview mit dem Sender Cope. "Vielleicht habe ich meinen Job nicht so gemacht, wie ich es sollte. Ich verstehe, dass ich kritisiert werde, wenn ich das Tor nicht treffe. Aber ich wünschte, die Leute würden sich auch mal in meine Lage versetzen", sagte er über die Drohungen, die sich wohl auch gegen seine Kinder gerichtet haben sollen. Es sei übertrieben. Eine absolut unstrittige Einschätzung.
Es ist eine Heldengeschichte, die nun tragischer nicht enden könnte. Morata hat wie 2016 drei Tore für Spanien erzielt. Mit nun sechs Treffern ist er der erfolgreichste Spieler der EM-Geschichte der Furia Roja. Anerkennung bekommt er dafür nicht. Sein Fehlschuss überlagert alles. Dabei ist es in Wahrheit nicht seine Schuld, dass die Mannschaft von Luis Enrique nach einem großartigen Spiel gegen Italien gescheitert ist. Allein Mikel Oyarzabal, der in der Sturmmitte dieses Mal den Vortritt bekam, hatte vier Szenen, die er besser, die er hätte viel besser hätte ausspielen können. Es waren Szenen, an deren Ende ein Tor hätte stehen dürfen. Es waren Szenen, die Coach Enrique verzweifeln ließen. Seine Auswahl hatte die bislang beeindruckenden Italiener phasenweise dominiert, vor allem das überragende Mittelfeld mit dem alternden Strategen Sergio Busquets und mit dem sensationellen Pedri, gerade mal 18 Jahre alt, sorgte für Kontrolle, für Dominanz, für tolle Zuspiele.
Es reichte nicht. Gut, dass Morata sich in der Nacht nicht bei Twitter blicken ließ. (tno)