Sensation im Schwergewicht
Lehrstunde für Joshua: Usyk zerfetzt britische Boxträume
Den Champion verprügelt
Von Till Erdenberger
Der Brite Anthony Joshua will gegen Alexander Usyk eigentlich nur einen Schritt auf dem Weg zum ersehnten Superkampf gegen Tyson Fury machen - doch es kommt ganz anders. Weil Alexander Usyk den Champion verprügelt und ihm eine schwere Niederlage zufügt. Nun steht alles auf der Kippe.
"Tyson hätte ihn vernichtet"
Als die Sensation perfekt, vier Titel weg und das Gesicht arg demontiert war, setzte es für Anthony Joshua auch noch arge Tiefschläge: Der Schwergewichtsweltmeister hatte gerade völlig überraschend gegen den krassen Außenseiter Alexander Usyk verloren, da meldete sich schon das Lager des ewigen Rivalen Tyson Fury mit höhnischen Worten: "Wenn es zu dem Kampf zwischen beiden gekommen wäre, was hätte Tyson dann mit ihm gemacht? Es wäre nicht über 12 Runden gegangen. Tyson hätte ihn vernichtet. Auf jeden Fall. Du würdest dein Haus darauf setzen, dass Tyson ihn besiegt", sagte Frank Warren, Promoter von Fury, der BBC. Auch von Ex-Weltmeister Lennox Lewis gab es keine warmen Worte für den erneut gestürzten Champion. "Für Anthony ist es nicht das Ende, aber man kann nicht so zaghaft sein oder bis zur achten Runde warten, ehe man loslegt. Lerne daraus und verbessere dich", schrieb der Brite bei Twitter.
65.000 am Ende größtenteils enttäuschte Box-Fans im Fußballstadion von Tottenham Hotspur waren zuvor Zeuge geworden, wie der Ukrainer Usyk Joshua eine vernichtende Niederlage beigebracht hatte. Usyk war in dem offenen Schlagabtausch von Beginn an überlegen, am Ende wehrte sich der Weltmeister nur noch mit knapper Not gegen einen demütigenden K.o.. Dabei hatte Usyk in seinem erst dritten Schwergewichtskampf doch eigentlich nur das Aufwärmprogramm für den mit gewaltiger Spannung und viel Brimborium anmoderierten Vereinigungskampf mit Fury sein. Es kam ganz anders.
Usyk "wie ein Box-Chirurg"
"Wir haben gestern die große Entzauberung des Anthony Joshua erlebt", war auch RTL-Boxexperte Andreas von Thien überrascht von der Lehrstunde für den Champion. "Ich bin sehr enttäuscht. Der Kampf hat deutlich gezeigt, dass AJ limitiert ist. Usyk hat seinen Schlachtplan perfekt ausgeführt und gezeigt, dass man mit mutigem schulmäßigem Boxen diesen vermeintlichen Überflieger schlagen kann. Usyk hat ihn nach Strich und Faden auseinander genommen." Technisch und taktisch brillant sei der Ukrainer gewesen, mit einer großartigen Beinarbeit. Joshua dagegen muss sich vorgekommen sein wie im falschen Film.
Auch er habe gedacht, dass Joshua den Ukrainer aufgrund seiner Athletik und der größeren Reichweite "auseinanderschrauben" würde, sagt von Thien. Der herausragende Techniker Usyk hatte gegen Joshua klare Größen- und Gewichtsnachteile. Am Ende aber hing der Brite in den Seilen, schwer geschlagen und mit ungläubigem Blick. Planlos. Usyk dagegen "ist vorgegangen wie ein Box-Chirurg. Der immer weiß, was er macht, wie er reagiert, egal was kommt. Die ganz hohe Schule. Daraus kannst du einen Lehrfilm fürs Boxen machen. Du hast immer eine Chance, egal ob der Gegner größer, stärker erscheint, die größere Reichweite hat", schwärmt von Thien.
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Joshua wirkte müde
Der neue Champion war dem bitter geschlagenen Joshua an diesem Abend in London in allem voraus: Mut, Taktik, Treffervermeidung. Joshuas stets wortgewaltiger Promoter Eddie Hearn fällte ein vernichtendes Urteil über die passive Leistung seines Schützlings. "Alexander Usyk war fantastisch. Es war keine großartige Leistung von AJ, er schaute mit zunehmendem Verlauf immer müder aus. Usyk hatte den perfekten Plan und hat Geschichte geschrieben", sagte der 42-Jährige.
Nach dem Kampf befragt, was schief gelaufen sei, sagte der unterlegene Brite: "In der neunten Runde konnte ich nichts mehr sehen, weil mein Auge geschlossen war. "Es war eine gute Erfahrung, denn in der Not muss man einfach lernen, sich selbst zu kontrollieren und die Dinge im Griff zu behalten." Eine bemerkenswert optimistische Beschreibung für die Erfahrung, nichts im Griff gehabt zu haben. "Es gab ein paar Momente, da hat Anthony mich hart getroffen. Aber das war nichts Besonderes. Ich hatte gar nicht vor, ihn K.o. zu schlagen", wunderte sich Usyk hinterher selbst ein wenig.
"Ich werde jetzt nicht schmollen"
Die Option auf den vertraglich vereinbarten Rückkampf werde man auch diesmal ziehen, kündigte Joshuas Lager noch am selben Abend an: "Ich werde jetzt nicht schmollen, ich werde zurückkommen. Es war eine große Lehrstunde für mich. Ich weiß, man kann das von einer negativen Seite aus betrachten, aber ich muss es als Lehrstunde hinnehmen und darauf aufbauen", sagte Joshua nach der verheerenden Niederlage. "Ich tendiere nie dazu, auf den Gegner zu schauen. Ich schaue immer nur auf mich selbst und erkenne, was ich falsch gemacht habe. Es liegt also nicht so sehr daran, was er getan hat, sondern an den Chancen, die ich ihm gegeben habe. Es liegt nicht so sehr an ihm. Ich werde einfach zurückgehen, auf mich schauen und meine Fehler korrigieren." Und es dann beim nächsten Mal besser machen. Der 31-Jährige verlor zum zweiten Mal nach 2019 seine Gürtel der Verbände WBA, WBO, IBF und IBO. Damals hatte sich der Brite die Titel ein Jahr später von Andy Ruiz jr. zurückgeholt.
Allein: Nach dieser Demonstration fehlt der Boxwelt die Fantasie, wie sich der Brite diesmal zurückmelden will. "Sollte er dies jedoch tatsächlich tun, könnte Usyk ihn beim zweiten Mal besiegen. Im Gegensatz zu Ruiz wird Usyk nicht außer Form zum Kampf kommen. Und der Sieg am Samstag war nicht zufällig", schrieb ESPN-Boxexperte Mike Coppinger. "Boxen als edle Kunst der Selbstverteidigung, das Fechten mit den Fäusten, all das war Alexander Usyk gestern Abend in Perfektion", schwärmt von Thien. "Das war der große Unterschied: Usyk hat die boxerische Klasse, AJ nicht. Das war der große Unterschied in einem Kampf, der die Boxwelt aus den Angeln gehoben hat."
Was wird aus dem Mega-Fight?
atsächlich hat die unerwartete Niederlage das Drehbuch, nach dem die Boxwelt funktioniert, wohl erstmal durcheinandergebracht. Oder wie ESPN schreibt: "Alexander Usyk hat das Drehbuch nicht nur zerrissen, er hat es in Brand gesteckt und es dann der Schwergewichtsboxabteilung ins Gesicht geworfen." Man habe das Gefühl, "dass der Kampf Großbritannien um den Schwergewichtskampf gebracht hat, über den so viele Jahre lang gesprochen wurde." Eigentlich sollten die beiden Champions schon im Sommer in Saudi-Arabien in den Ring steigen sollen um gegeneinander zu kämpfen – aber ein Schiedsgericht in Las Vegas entschied, dass Fury erst eine Rückkampfklausel aus dem Kampfvertrag von Fury und Deontay Wilder einhalten muss. Erst dadurch kam es zum für Joshua verhängnisvollen Kampf gegen Usyk.
"Offensichtlich haben wir zuvor versucht, den Kampf zu bekommen, aber das hat nicht geklappt", sagte Joshua vor dem Duell mit Usyk bei DAZN. Fury boxt am 9. Oktober zum dritten Mal gegen Deontay Wilder ran, ehe er mit Joshua in den Ring steigen kann. Ob es trotz Joshuas Niederlage noch zum "größten Kampf in der britischen Box-Geschichte" kommen wird, als das ein drittes Duell der beiden besprochen wird?
Ernüchterung im Fury-Lager
Zumindest Joshua ist sich sicher: "Ich werde gegen Tyson Fury und Wilder auch ohne die Gürtel kämpfen. Die Gürtel machen Spaß, sie sind großartig, sie sind ein Vermächtnis - aber ob mit oder ohne Gürtel, ich werde gegen jeden kämpfen. Der Weg zum unangefochtenen Champion ist ein schöner Titel, den man haben und verfolgen kann, aber würden Sie ihn auch ohne die Gürtel verfolgen? Die Hauptsache ist, dass man zwei konkurrenzfähige Kämpfer aus Großbritannien im Ring hat, die einfach nur gegeneinander antreten wollen." Für Frank Warren, Co-Promoter von Fury, ist die Ernüchterung von London dagegen ein herber Rückschlag für den Superkampf: "Ich glaube nicht, dass er jetzt stattfindet", sagte Warren gegenüber BBC Sport. (Quelle:ntv.de)