100 Tage im Amt
Julian Nagelsmann: So einen Trainer hatte der FC Bayern auch noch nie

Julian Nagelsmann hatte sich schon gefreut, dass der FC Bayern ihm so viel Vertrauen entgegenbringt. Aber er fürchtet, dass die Sache nicht so zu Ende geht, wie sich das alle Beteiligten vorstellen. Fünf gemeinsame Jahre, mindestens, das hält der Trainer für eher unwahrscheinlich. Für eine Utopie hält er das allerdings auch wieder nicht. Und ebenfalls hat der 34-Jährige nun, wo er seit diesem Freitag 100 Tage im Amt beim Rekordmeister ist, keine Pläne, die ein vorzeitiges Ende seiner Zeit in München beschleunigen.
Flick vertraut seinem Erfolgssystem beim FC Bayern

Das ist eine gute Nachricht. Zumindest für die mächtigen Bosse des Klubs. Die heißen ja tatsächlich nicht mehr Uli Hoeneß und Karl-Heinz Rummenigge, nein, die prägenden Gestalten sind nun Oliver Kahn und Hasan Salihamidžić. Der Sportvorstand dürfte derweil heilfroh sein, dass sein neuer Coach nicht nur sehr erfolgreich arbeitet, sondern ihn auch nicht öffentlich mit Transferwünschen piesackt. Das hatte Vorgänger Hansi Flick ja in beachtlicher Regelmäßigkeit getan und damit für emotionale Ausnahmezustände an der Säbener Straße gesorgt, die man zuletzt aus den hollywood'schen 90er-Jahren kannte.
Hansi Flick ist weitergezogen. Er hatte den Machtkampf mit dem Sportvorstand verloren, dafür aber sein Glück beim Deutschen Fußball-Bund gefunden. Dort heuerte er als Bundestrainer an und kann nun das tun, was er am liebsten macht: einen Kader nach seinen Wünschen zusammenstellen, ohne Einmischung von mächtigen Bossen. Dabei setzt Flick natürlich auf jede Menge Spieler des FC Bayern. Er baut für Deutschland quasi eine Kopie seiner Erfolgself aus München. Am Abend spielt diese übrigens in der WM-Qualifikation gegen Rumänien.
Das Tempo steigert sich von comodo zu einem wilden presto

Die "echte" Erfolgself in München wird nun eben von Nagelsmann angeleitet. Zwar ist der Rahmen, in dem ein 100-Tage-Bild hängt, ein wenig schrägt, dafür ist das Werk an sich umso beeindruckender. Die Vorbereitung lief, nunja, arg bescheiden. Das lag selbstverständlich vor allem daran, dass ihm sehr viel Spitzenpersonal nicht zur Verfügung stand. Die Nachwirkungen der Europameisterschaft. Neuer Trainer, neue Spieler, neue Idee und kein solider Vorlauf auf eine Saison, das ist für gewöhnlich eine nicht gute Symbiose. Und tatsächlich stand zu befürchten (wenn man den FC Bayern mag), dass der Start in die neue Ära sehr, sehr ruckelig werden könnte. Aber nein, erstaunlich schnell harmonisierte der Trainer sein Orchester. Das fidelte gegen Borussia Mönchengladbach (1:1) ganz seriös los und in den Wochen danach jeden Gegner knallhart weg. Dabei wurde das Tempo von comodo zu einem wilden presto gesteigert.
Blöd ist nur, dass der letzte Eindruck nicht ganz stimmig ist. Denn bevor Fußball-Deutschland seinen Fokus auf Hansi Flick und die Nationalmannschaft richtet, kassierte Nagelsmann seine erste Pleite in einem Pflichtspiel mit dem FC Bayern. Gegen Eintracht Frankfurt gab es ein bizarres 1:2. Bizarr, weil die Mannschaft alles andere als schlecht spielte, aber viel zu selten traf. Einmal eben nur. Zigfach scheiterten Sturm-Gigant Robert Lewandowski und seine Kollegen an einem sensationellen Kevin Trapp. Den übrigens holte Flick dieses Mal nicht ins DFB-Aufgebot. Kann man komisch finden, ist aber so.
Der Trainer ist "verspielt" und "dominant"

Komisch kann man auch finden, wie sich Julian Nagelsmann über das Klubgelände des FC Bayern bewegt. Gelegentlich rauscht er mit einem elektronischen Skateboard an den Plätzen vorbei. Das wirkt modern, futuristisch und ein wenig entrückt. Die vielen Vereinsmitarbeiter sollen ihn ja "nicht wie einen Außerirdischen sehen", sagte er jüngst, "nur weil ich der Profi-Cheftrainer bin." Das es aber genauso wirkt? Nun ja. In seiner Außendarstellung ist er der absolute Gegenentwurf zu seinem Vorgänger, traut sich modisch mehr und ist in Medienrunde stets um Entertainment und Sprüche bemüht. Er ist so ein bisschen der Thomas Müller unter den Übungsleitern. Flick ist eher der sachliche Typ mit dem angedeuteten Lächeln. Eher der Typ Robert Lewandowski also.
In München fremdeln sie mit der Art des neuen Mannes dagegen überhaupt nicht. Kapitän Manuel Neuer, der ja unter anderem wegen des äußerst aufmüpfigen Herausforderers Alexander Nübel (ist derzeit an die AS Monaco verliehen) ein sehr vertrautes und enges Verhältnis zu Flick hatte, sagt über seinen neuen, seinen jungen Chef, dass er "verspielt" sei, aber "trotzdem sehr dominant." So ist auch seine Spielidee. Und weil diese sich perfekt mit der mysteriösen Mia-san-mia-Klub-DNA deckt, war Nagelsmann auch die Wunschlösung. Der bekannte bei seiner Vorstellung vor gut drei Monaten, dass er "nicht alles auf den Kopf stellen" wolle, dass er aber schon vorhabe dem Team einen, nämlich seinen, unverkennbaren Fußball zu implementieren. Der ist weniger riskant als unter Flick, weniger aggressiv, dafür komplexer, um noch mehr erdrückende Kontrolle bemüht.
Noch gab es keinen echten Gegner...

Und beim FC Bayern können sie diese neue Handschrift bereits erkennen. Das sagen Oliver Kahn und Karl-Heinz Rummenigge. Der ehemalige Boss hat zwar nicht mehr das ganz schwere Wort, aber man hört ja dennoch hin, wenn er etwas sagt. Der glücklichste Mann im Rekordmeister-Kosmos dürfte aber Salihamidžić sein. Der freut sich nicht nur über die neue Ruhe, sondern auch über den engen Austausch und den guten Input. Da darf es dann vermutlich auch gerne mal um den Kader gehen.
Über den gab es im Sommer ja jede Menge Diskussionen. Reicht das Aufgebot wirklich aus, um die großen Ziele zu erreichen? Es war eine Debatte, quasi das Post-Flick-Erbe. Eine Antwort darauf gibt es nach 100 Tagen unter Nagelsmann nicht. Zwar hat die Mannschaft schon gegen Vereine mit großen Namen gespielt. Aber ein Topteam in Topform war noch nicht dabei. Der FC Barcelona ist geplagt von einem Schuldirrsinn und Lionel Messi in der schwersten Krise der vergangenen Jahrzehnte, RB Leipzig ringt nach dem Aderlass Richtung München (neben Nagelsmann verloren die Sachsen auch Dayot Upamecano und Marcel Sabitzer an den Rekordmeister und zusätzlich Ibrahima Konate an den FC Liverpool) um Form und Beziehung zu dem neuen Trainer. Und auch der BVB war im Supercup noch nicht auf Höhe der (spektakulären) Möglichkeiten.
Upamecano erinnert an den jungen Boateng

Das soll und muss die Arbeit des Coaches nicht kleinreden. Schließlich hatte er selbst ja einen Umbau der Mannschaft zu organisieren. Die komplette Innenverteidigung war ihm weggebrochen: David Alaba spielt bei Real Madrid, Jérôme Boateng unterschrieb bei Olympique Lyon und der klappernde Javi Martinez genießt den Vorvorruhestand in Katar. Was erstaunlich gut funktioniert: Die sportliche Wiederbelebung von Niklas Süle. Der stand in den vergangenen Jahren fast durchgehend in der Kritik, spielt aber plötzlich sehr souverän und entdeckt als Aushilfe auf der rechten Seite seinen Offensivdrang. Lucas Hernández erledigt seine Sache souverän, bei ihm bleibt immer die Sorge, das dem Körper wieder etwas zustößt. Bleibt noch Upamecano. Bleibt noch das Rätsel. Er changiert in wildem Modus zwischen starken Aktionen und leichten bis schweren Aussetzern. Mit der Tendenz zum Zweiteren. Ein bisschen wie der junge Boateng. Gut also für die Bayern, dass sich in der Findungsphase noch nicht nur die mächtigsten Geschütze vor der Münchner Mauer aufgebaut haben. Das ändert sich aber direkt nach der Länderspielpause, wenn mit Bayer Leverkusen die Spektakeltruppe der Bundesliga wartet.
In der Offensive fluppt das dagegen schon ganz manierlich. Besonders bemerkenswert ist der steile Aufstieg von Leroy Sané. Allerdings gibt es durchaus unterschiedlich Ansätze, um zu erklären, warum der Nationalspieler aktuell doch ein Mann für den Unterschied ist. Bevor er im September zum DFB-Team reiste, zu seinem Ex-Coach Flick also, war er in ziemlich desolater Verfassung. Die schwache EM hatte er mit zum Verein geschleppt. In München wurde er von den eigenen Fans ausgepfiffen. Davon ist er nun weit entfernt, auch wenn ihm natürlich noch immer nicht alles wieder ohne Mühe von der Hand geht. Aber in der Nationalmannschaft durfte er Spielzeit und Selbstvertrauen sammeln. Flick ließ er auf der Außenbahn wuseln, verbot ihm aber nicht den Drang ins Zentrum. Als Gegenleistung arbeitete der Spieler mit galliger Körpersprache gegen den Ball – und das erfolgreich. Nagelsmann adaptierte die Rolle, entwickelte sie weiter. Durch den offensiven Außenverteidiger Alphonso Davies hat Sané vorne noch mehr Räume. Er wird belohnt. Der Trainer auch.
"Ich habe mit Julian nullkommanull Probleme"

Adaptiert hat er sonst einiges aus der erfolgreichen Zeit seines Vorgängers. Im zentralen Mittelfeld vertraut er auf den perfekt eingespielten Block aus Joshua Kimmich, Leon Goretzka und Thomas Müller. Das ist so mit das Wuchtigste und Mächtigste, was der internationale Fußball zu bieten hat. Auch Robert Lewandowski ist gesetzt. Muss man eigentlich nicht schreiben. Wobei die Sache in der Vergangenheit ja oft eher so war: Nagelsmann und Mittelstürmer, das war keine große Liebe. Weder bei der TSG Hoffenheim, noch bei RB Leipzig. Und auch beim FC Bayern ist noch Luft nach oben. Der Pole trifft zwar in allen Wettbewerben schon wieder sehr beeindruckend häufig, wirkt aber nicht mehr so dominant integriert, wie noch unter Flick.
Der blickt in diesen Tagen übrigens ohne Groll nach München und mit viel Freude auf seinen Nachfolger. "Ich finde, Julian ist ein toller Trainer, ein Top-Trainer. Gerade in seinen jungen Jahren ist das schon sehr erstaunlich. Er macht eine herausragende Arbeit", sagte der Bundestrainer, der häufig Tribünengast bei Bayern-Spielen ist, zuletzt gegenüber der Deutschen Presseagentur. "Ich freue mich wirklich zu sehen, wie die Mannschaft Fußball spielt." Berührungsängste gäbe es zwischen ihnen nicht. Warum auch? "Ich habe mit Julian nullkommanull Probleme. Wir tauschen uns öfter aus. Das gehört einfach dazu. Wir kennen uns schon länger. Es ist im Fußball normal, dass ein Nachfolger kommt, wenn man geht", sagt Flick.
Was nicht normal ist, dass ein 34-Jähriger seinen Weg so überzeugend geht. Schon einmal hatten sie in München einen so jungen Mann an der Seitenlinie. Er hieß Sören Lerby. Er blieb nur fünf Monate. Nun sollen es fünf Jahre werden… (tno)